Entscheidungsstichwort (Thema)

Vergütungsfortzahlung bei Teilarbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers

 

Orientierungssatz

Parallelsache zu BAG Urteil vom 29.1.1992 5 AZR 37/91.

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 06.12.1990; Aktenzeichen 6 Sa 453/90)

ArbG Kiel (Entscheidung vom 05.09.1990; Aktenzeichen 4a Ca 1265/90)

 

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 6. Dezember 1990 – 6 Sa 453/90 – wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für die Monate Mai bis Juli 1990 Vergütung aus dem rechtlichen Gesichtspunkt des Annahmeverzuges schuldet.

Der schwerbehinderte Kläger ist seit 1978 als Sachbearbeiter in der allgemeinen Verwaltung der Beklagten tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft Vereinbarung der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) Anwendung. Der Kläger ist in die VergGr. VII BAT eingestuft. Seit dem 26. September 1989 ist der Kläger durchgehend arbeitsunfähig krank. Er erhält von der Beklagten keine Vergütung mehr. Auch die Krankenkasse gewährt ihm inzwischen kein Krankengeld oder ähnliche Bezüge mehr.

Am 17. April 1990 legte der Kläger der Beklagten ein undatiertes ärztliches Attest vor, das auszugsweise wie folgt lautet:

"Da Herr E jetzt arbeitsunfähig erkrankt ist,

befürworte ich aufgrund der Kenntnis der bisheri-

gen Erkrankung eine Wiedereingliederungsmaßnahme

in den Arbeitsprozeß mit vorerst vier Std. tägl.

für die Dauer von sechs Wochen, um dann stufen-

weise die Arbeitszeit heraufsetzen zu können."

Zugleich bat der Kläger die Beklagte, ihn zunächst mit 50 % der üblichen Arbeitszeit zu beschäftigen. Die Beklagte antwortete mit Schreiben vom 26. April 1990 wie folgt:

"Wir nehmen zur Kenntnis, daß Ihnen in einem

ärztlichen Attest ein Arbeitsversuch für sechs

Wochen angeraten wurde.

Grundsätzlich sind wir damit einverstanden. Al-

lerdings wird von uns für die Zeit des Arbeits-

versuchs keine Vergütung gezahlt, da Sie nach wie

vor arbeitsunfähig erkrankt sind. Ihre Arbeits-

leistung können wir erst annehmen, wenn die Ar-

beitsfähigkeit ärztlich festgestellt wird.

Eventuell kann Ihre Krankenversicherung für die

Zeit des Arbeitsversuchs die Zahlung des Kranken-

geldes vornehmen. Setzen Sie sich zur Klärung

bitte mit der Barmer Ersatzkasse in Verbindung

und teilen uns dann mit, ob und ggf. wann der Ar-

beitsversuch beginnen soll."

Mit Schreiben seiner Prozeßbevollmächtigten vom 5. Juni 1990 machte der Kläger "für die Dauer seiner Tätigkeit einen Vergütungsanspruch in Höhe von 50 % seiner üblichen Arbeitsvergütung geltend, sofern und solange er arbeitet". Mit Schreiben vom 27. Juni 1990 lehnte die Beklagte es nochmals ab, den Kläger gegen Vergütung täglich vier Stunden zu beschäftigen. Der Kläger trat die Beschäftigung daraufhin nicht an.

Mit seiner Klage nimmt der Kläger die Beklagte auf Zahlung in Anspruch. Er verlangt die halbe Vergütung für die Monate Mai bis Juli 1990 in Höhe von insgesamt 4.474,50 DM. Er hat geltend gemacht, er habe Anspruch auf Zahlung einer Vergütung in dem Umfang, in dem er die Arbeitsleistung aufgrund seines Gesundheitszustandes habe erbringen können, nämlich auf 50 % seiner früheren Bezüge. Die Beklagte müsse ihm als Schwerbehinderten aufgrund ihrer Fürsorgepflicht einen Arbeitsplatz anbieten, auf dem er die Hälfte seiner früheren Arbeitsleistung erbringen könne. Das sei der Beklagten auch betrieblich möglich.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4.474,50 DM

brutto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu

zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, es sei ihr nicht möglich, den Kläger vier Stunden täglich auf seiner Planstelle zu beschäftigen. Für den Kläger seien Aushilfskräfte für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit eingestellt worden, nämlich eine bis zum 15. Oktober 1989 und eine zweite ab 16. Oktober 1989. Bei einem Einsatz von vier Stunden täglich sei eine fortlaufende und reibungslose Aufgabenerledigung auf dem Arbeitsplatz des Klägers nicht gewährleistet. Sie habe auch keinen halben freien Arbeitsplatz in einem anderen Bereich für den Kläger zur Verfügung. Schließlich sei ihr auch nicht möglich, für den Kläger eine besetzte halbe Planstelle freizumachen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger sein Klageziel weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. I.Dem Kläger steht kein Anspruch auf Entgeltzahlung zu, weil er die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung wegen unstreitiger Arbeitsunfähigkeit nicht erbringen und demgemäß auch nicht anbieten konnte (§§ 611, 615 BGB). Eine vertragliche Vereinbarung der Parteien über eine teilweise Erbringung der Arbeitsleistung seitens des Klägers ist nicht zustandegekommen. Ebenso fehlt es an der Vereinbarung über eine Vergütung während eines Wiedereingliederungsverfahrens nach § 74 SGB V. Daher ist ein Anspruch auf Entgelt für eine tatsächlich geleistete oder angebotene Tätigkeit im Rahmen eines umgewandelten Arbeitsverhältnisses oder im Rahmen eines Wiedereingliederungsverfahrens zu verneinen. Das alles hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt. Im einzelnen gilt folgendes, wie der Senat bereits in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 29. Januar 1992 des Parallelverfahrens - 5 AZR 37/91 - näher ausgeführt hat:

II.1. Arbeitsunfähig infolge Krankheit ist der Arbeitnehmer dann, wenn ein Krankheitsgeschehen ihn außerstand setzt, die ihm nach dem Arbeitsvertrag obliegende Arbeit zu verrichten, oder wenn er die Arbeit nur unter der Gefahr fortsetzen könnte, in absehbar naher Zeit seinen Zustand zu verschlimmern (BAGE 48, 1, 3 = AP Nr. 62 zu § 1 LohnFG, zu I 1 der Gründe, mit weiteren Nachweisen; aus neuerer Zeit: Senatsurteil vom 26. Juli 1989 - 5 AZR 301/88 - AP Nr. 86 zu § 1 LohnFG, zu II 1 der Gründe; ferner BSG Urteil vom 7. August 1991 - 1/3 RK 28/89 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Das Recht der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle kennt den Begriff der teilweisen Arbeitsunfähigkeit nicht. Die Arbeitsunfähigkeit kann nur im Hinblick auf einen bestimmten Arbeitnehmer und die von diesem zu verrichtende Tätigkeit bestimmt werden. Wesentlich ist dabei der Bezug zu der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung. Arbeitsrechtlich kann das Vorliegen einer Krankheit immer nur im Verhältnis zu den vom Arbeitnehmer vertraglich übernommenen Verpflichtungen beurteilt werden. Die durch Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit wird deshalb nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Arbeitnehmer seine geschuldeten Vertragspflichten anstatt voll nur teilweise zu erbringen vermag. Arbeitsrechtlich bedeutet es keinen Unterschied, ob der Arbeitnehmer durch die Krankheit ganz oder teilweise arbeitsunfähig wird. Auch der vermindert Arbeitsfähige ist arbeitsunfähig krank im Sinne der einschlägigen entgeltfortzahlungsrechtlichen Regelungen, eben weil er seine vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht voll erfüllen kann (vgl. Senatsurteil vom 25. Oktober 1973 - 5 AZR 141/73 - AP Nr. 42 zu § 616 BGB, zu 1 der Gründe, mit weiteren Nachweisen; BAG Urteil vom 25. Juni 1981 - 6 AZR 940/78 - AP Nr. 52 zu § 616 BGB, zu II 4 der Gründe).

2.An diesen Grundsätzen hat sich durch die - mit dem Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2477) in das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführte - Bestimmung des § 74 SGB V nichts geändert. Hiernach soll der Arzt dann, wenn arbeitsunfähige Versicherte nach ärztlicher Feststellung ihre bisherige Tätigkeit teilweise verrichten können und durch eine stufenweise Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit voraussichtlich besser wieder in das Erwerbsleben eingegliedert werden können, auf der Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit Art und Umfang der möglichen Tätigkeit angeben. Die neue Bestimmung steht rechtssystematisch in einer Reihe von Vorschriften, welche die Sicherstellung der kassenärztlichen und kassenzahnärztlichen Versorgung zum Inhalt haben. Schon hieraus geht hervor, daß § 74 SGB V den der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundessozialgerichts zugrunde liegenden Begriff der Arbeitsunfähigkeit nicht anders regeln wollte (zutreffend v. Hoyningen-Huene, NZA 1992, 49, 50; vgl. weiter Wanner, DB 1992, 93, 94).

Charakteristisch für das Wiedereingliederungsverfahren ist nach der klaren Regelung des § 74 SGB V, daß der Arbeitnehmer weiterhin arbeitsunfähig ist (vgl. Regierungsentwurf zu § 74 SGB V, BT-Drucks. 11/2237, S. 192 zu § 82). Schon daraus folgt, daß der Arbeitgeber nicht verpflichtet ist, eine Tätigkeit des Arbeitnehmers im Wiedereingliederungsverfahren als teilweise Arbeitsleistung entgegenzunehmen. In gleicher Weise ist aber auch der Arbeitnehmer nicht verpflichtet, eine bestimmte Tätigkeit im Wiedereingliederungsverfahren zu übernehmen. Es gibt keinen gesetzlichen Zwang zur Wiedereingliederung eines arbeitsunfähigen Arbeitnehmers (vgl. v. Hoyningen-Huene, aaO, S. 50 f., mit weiteren Nachweisen). Zur Wiedereingliederung bedarf es vielmehr einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (zutreffend v. Hoyningen-Huene, aaO). Dabei sind beide Seiten darin frei, ob sie eine solche Vereinbarung abschließen wollen oder nicht. Ob der Arbeitgeber - vor allem der Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes - besonders schutzbedürftigen Arbeitnehmern, z. B. Schwerbehinderten, aus Gründen der Fürsorgepflicht die Möglichkeit zur Wiedereingliederung eröffnen muß, bedarf hier keiner näheren Untersuchung, da der Beklagte sich ausdrücklich bereitgefunden hat, den Kläger entsprechend ärztlicher Empfehlung zur Wiedereingliederung zu beschäftigen.

3.Das Wiedereingliederungsverhältnis ist ein Rechtsverhältnis eigener Art (§ 305 BGB). Gegenstand der Tätigkeit des Arbeitnehmers ist nicht die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung, sondern ein aliud (vgl. v. Hoyningen-Huene, aaO, S. 52). Im Vordergrund der Beschäftigung stehen, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, Gesichtspunkte der Rehabilitation des Arbeitnehmers. Arbeitsvertragliche Verpflichtungen des Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung im üblichen Sinne werden nicht begründet. Dem Arbeitnehmer wird nur Gelegenheit gegeben zu erproben, ob er auf dem Wege einer im Verhältnis zur vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung quantitativ oder/und qualitativ verringerten Tätigkeit zur Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit gelangen kann. Dabei ergibt sich auch aus den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und die Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung vom 3. September 1991 (Dt. Ärzteblatt 1991, C-2164), daß die therapeutischen Gründe bei dem Prozeß der Wiedereingliederung die entscheidende Rolle spielen. Denn es sind u. a. die gesundheitlichen Auswirkungen der aufgenommenen Tätigkeit regelmäßig ärztlich zu untersuchen; sind nachteilige Folgen zu erkennen oder zu befürchten, ist eine Anpassung oder ein Abbruch der Wiedereingliederung vorzunehmen (vgl. Nr. 30 der Richtlinien).

Trotz der vorstehend beschriebenen Zielsetzung des Wiedereingliederungsverfahrens bestehen auch in einem nach § 74 SGB V begründeten Rechtsverhältnis Nebenpflichten, die sich als fortwirkende Ausstrahlung des in seinen Hauptpflichten weiter ruhenden Arbeitsverhältnisses ergeben, soweit sie mit dem Zweck der Wiedereingliederungsmaßnahme vereinbar sind (Weisungsrecht und Fürsorgepflicht des Arbeitgebers sowie Treuepflichten des Arbeitnehmers).

Das Wiedereingliederungsverhältnis unterscheidet sich außerdem noch in anderer Weise von anderen möglichen Vertragsgestaltungen. Wenn der Arbeitnehmer die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht in vollem Umfang zu erbringen vermag, können die Parteien einverständlich den ursprünglichen Arbeitsvertrag vorübergehend in einen solchen mit verkürzter Arbeitszeit oder mit verändertem Vertragsgegenstand umwandeln (vgl. Senatsurteil vom 25. Oktober 1973 - 5 AZR 141/73 - AP Nr. 42 zu § 616 BGB) oder aber zu dem in seinen Hauptpflichten ruhenden ursprünglichen Arbeitsverhältnis ein weiteres, befristetes Arbeitsverhältnis mit zeitlicher oder inhaltlicher Änderung begründen. Voraussetzung hierfür ist aber, daß die Parteien eine entsprechende Vereinbarung - ausdrücklich oder konkludent - treffen.

III.1. Da der Arbeitnehmer im Wiedereingliederungsverfahren nicht die geschuldete Arbeitsleistung erbringt und wegen seiner Arbeitsunfähigkeit auch gar nicht erbringen kann, ist ein Anspruch auf Entgelt für die geleistete Tätigkeit zu verneinen (ebenso v. Hoyningen-Huene, aaO, S. 53). Eine besondere gesetzliche Grundlage für einen Entgeltanspruch ist nicht gegeben. § 74 SGB V enthält keine Regelung über eine Entgeltzahlungspflicht des Arbeitgebers. Eine entsprechende Pflicht des Arbeitgebers läßt sich auch nicht aus anderen gesetzlichen Bestimmungen ableiten. Es kann nicht davon gesprochen werden, daß die zur Wiedereingliederung aufgenommene Tätigkeit nach den Umständen nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist (§ 612 Abs. 1 BGB). Ein dahingehender Anspruch ergibt sich auch nicht aus bereicherungsrechtlichen Gesichtspunkten (§ 812 BGB). Letztere scheiden als Anspruchsgrundlage bereits deswegen aus, weil das Wiedereingliederungsverhältnis mit seinem Rehabilitationscharakter einen zureichenden rechtlichen Grund für die verrichtete Tätigkeit darstellt.

2.Keine Bedenken bestehen dagegen, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich auf eine bestimmte Vergütung für die im Rahmen der Wiedereingliederung erbrachte Tätigkeit einigen. Dazu bedarf es aber einer ausdrücklichen Klarstellung zwischen den Vertragspartnern. Aus dem Wiedereingliederungsverhältnis als solchem folgt eine Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitgebers nicht.

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Reinecke

Dr. Kukies Kähler

 

Fundstellen

Haufe-Index 440342

DOK 1993, 793 (L)

EEK, I/1074 (ST1-4)

WzS 1993, 283 (L)

SGb 1993, 218 (L)

SVFAng Nr 78, 17 (1993) (KT)

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