Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialversicherungsbeiträge. nachträglicher Lohnabzug

 

Normenkette

RVO §§ 394-395; AVG §§ 118, 119 a.F.; AFG § 179 Nr. 2; ArbGG § 2 Abs. 1 Nr. 3a, § 73 Abs. 2; BGB §§ 611, 276

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 05.05.1988; Aktenzeichen 9 Sa 1481/87)

ArbG Frankfurt am Main (Urteil vom 15.05.1987; Aktenzeichen 15 Ca 139/86)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Mai 1988 – 9 Sa 1481/87 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, von dem Lohn und Gehalt der Kläger nachträglich Sozialversicherungsbeiträge einzubehalten.

Die Kläger sind in der Kurklinik der Beklagten in B. beschäftigt. Die Parteien sind tarifgebunden.

Die Beklagte hat den Klägern Appartements in der Kuranlage vermietet. Es handelt sich um Wohnraum, den die Beklagte sonst auch an Fremdmieter vergibt.

Das Finanzamt hat Ende 1983 bei einer Lohnsteueraußenprüfung beanstandet, daß die den Klägern berechnete Miete unter den ortsüblichen Mittelpreisen liege und daß die Differenz den Klägern als geldwerter zu versteuernder Vorteil zugeflossen sei. Deswegen hat das Finanzamt am 6. Januar 1984 gegenüber der Beklagten einen Haftungsbescheid erlassen, der noch nicht rechtkräftig ist. Das Finanzamt hatte schon am 18. Februar 1980 wegen des gleichen Sachverhalts für den Zeitraum 1973 bis 1973 einen Haftungsbescheid erlassen. Dieser ist vom Bundesfinanzhof durch Urteil vom 25. Oktober 1985 aufgehoben worden, weil, die Beklagte sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum darüber befunden habe, daß der nach maßgebenden bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften festgesetzte örtliche Mietwert in der Regel dem steuerrechtlichen ortsüblichen Mietwert entsprochen habe.

Dieses Urteil ist der Beklagten am 9. Dezember 1985 zugestellt worden.

Der zuständige Dezernent der Beklagten hat die Klinikverwaltung in B. mit Schreiben vom 6. Februar 1986 angewiesen, für die Zeit der Nachversteuerung vom 1. Januar 1979 bis zum 31. August 1983 von den Mietern Sozialversicherungsbeiträge in Höhe der geldwerten Vorteile einzubehalten. Die Beklagte hat im Mai 1986 die für die Kläger entsprechend nachberechneten Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung für den Zeitraum vom 1. Januar 1979 bis zum 31. August 1983 an die Einzugsstelle abgeführt. Ab Juni 1986 hat sie von der Vergütung der Kläger Teilbeträge der nachentrichteten Arbeitnehmeranteile einbehalten.

Die Kläger halten das nicht für gerechtfertigt und haben beantragt, die Beklagte zu verurteilen,

an den Kläger zu 1) 919,34 DM

an die Klägerin zu 2) 1.200,92 DM

an die Klägerin zu 3) 1.200,56 DM

an die Klägerin zu 4) 2.348,19 DM

an die Klägerin zu 5) 1.200,72 DM

an die Klägerin zu 6) 1.547,49 DM

an den Kläger zu 7) 1.537,92 DM

an die Klägerin zu 8) 1.135,97 DM

an die Klägerin zu 9) 1.041,31 DM

an die Klägerin zu 10) 415,– DM

an die Klägerin zu 11) 117,12 DM

an die Klägerin zu 12) 12,84 DM

an die Klägerin zu 13) 293,08 DM

an die Klägerin zu 14) 383,21 DM

an die Klägerin zu 15) 702,01 DM

an die Klägerin zu 16) 338,84 DM

an den Kläger zu 17) 375,73 DM

an die Klägerin zu 18) 474,45 DM

an die Klägerin zu 19) 61,46 DM

an die Klägerin zu 22) 174,36 DM,

an die Klägerin zu 23) 49,14 DM,

an die Klägerin zu 24) 152,50 DM,

an die Klägerin zu 25) 340,91 DM,

an die Klägerin zu 26) 386,31 DM,

an die Klägerin zu 27) 422,15 DM,

an den Kläger zu 28) 353,31 DM,

an die Klägerin zu 29) 118,42 DM,

an die Klägerin zu 30) 220,01 DM,

an die Klägerin zu 31) 206,47 DM,

an die Klägerin zu 32) 360,41 DM,

an die Klägerin zu 33) 385,63 DM,

an die Klägerin zu 34) 376,19 DM,

an die Klägerin zu 35) 409,73 DM,

an die Klägerin zu 36) 440,86 DM,

an die Klägerin zu 37) 390,87 DM,

an den Kläger zu 38) 212,14 DM,

an die Klägerin zu 39) 375,10 DM,

an die Klägerin zu 40) 478,68 DM,

an die Klägerin zu 41) 318,44 DM,

an den Kläger zu 42) 156,09 DM,

an die Klägerin zu 43) 303,60 DM,

an die Klägerin zu 44) 376,60 DM,

an die Klägerin zu 45) 1.200,69 DM

nebst 4 % Zinsen zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und hält sich für berechtigt, die nachentrichteten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung im Lohnabzugsverfahren einzubehalten, weil sie ohne Verschulden davon ausgegangen sei, daß in den Mieten kein geldwerter Vorteil für die Kläger enthalten gewesen sei.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision will die Beklagte die Abweisung der Klage erreichen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten mußte zurückgewiesen werden. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht entschieden, daß die Beklagte die nachentrichteten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung von der Vergütung der Kläger nicht einbehalten durfte.

I. Das Berufungsgericht hat den Rechtsweg zu den Gerichten der Arbeitsgerichtsbarkeit zutreffend bejaht. Nach § 73 Abs. 2 ArbGG ist in der Revisionsinstanz die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen von Amts wegen zu prüfen, wenn es um den Rechtsweg zu den Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten geht.

Die Kläger erheben eine Gehaltsforderung. Sie verlangen die Teile der Vergütung, die von der Beklagten einbehalten worden sind. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 611 BGB. Dafür sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig. Allerdings muß für die Berechtigung des Lohnabzugs auf Vorschriften des Sozialversicherungsrechts (§ 179 Nr. 2 AFG i.V. mit §§ 394, 395 RVO) zurückgegriffen werden, weil die Aufrechnungsbefugnis der Beklagten von der Frage abhängt, ob die Beklagte die nachentrichteten Beiträge zur Sozialversicherung für den streitbefangenen Zeitraum im Lohnabzugsverfahren noch einbehalten konnte. Vorliegend ist die Frage der Berechtigung des Lohnabzugs jedoch lediglich als öffentlich-rechtliche Vortrage im Rahmen eines bürgerlichen Rechtsstreits zu prüfen (BAG Urteil vom 8. Dezember 1981 – 3 AZR 71/79 – AP Nr. 5 zu §§ 394, 395 RVO). Die Parteien streiten nur über die Berechtigung zum nachträglichen Lohnabzug, nicht jedoch darüber, ob der geldwerte Vorteil einer niedrigeren als der ortsüblichen Miete als Sachbezug der Beitragspflicht zur Sozialversicherung unterliegt.

II. Die Vorinstanz hat zutreffend entschieden, daß die Beklagte ab Juni 1986 nicht berechtigt war, die für die Zeit vom 1. Januar 1979 bis zum 31. August 1983 nachberechneten Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung von den Klägern durch Verrechnung mit ihrer Vergütung einzubehalten.

1. Der Arbeitgeber ist grundsätzlich zur Zahlung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile für alle Bereiche der Sozialversicherung verpflichtet (§ 381 Abs. 1, § 393 Abs. 1, § 1396 Abs. 1 RVO a.F.; § 118 AVG a.F., § 176 AFG). Er darf aber seinerseits die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung vom Lohn oder Gehalt wieder abziehen (§ 119 Abs. 1 AVG a.F., § 394 Abs. 1, § 1397 Abs. 1 RVO a.F.; § 179 Nr. 2 AFG). Unterbliebene Abzüge dürfen jedoch nur bei der nächsten Lohn- oder Gehaltszahlung nachgeholt werden, es sei denn, daß der Arbeitgeber die Beiträge schuldlos nachentrichtet hat (§ 119 Abs. 3 AVG a.F.; § 395 Abs. 2, § 1397 Abs. 3 RVO a.F., § 179 AFG). Diese Vorschriften sind im Streitfall maßgebend, denn die §§ 394, 395 RVO sind erst mit Wirkung vom 1. Januar 1989 durch Art. 5 Nr. 2 des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I S. 2477) aufgehoben worden.

2. Es kommt somit nur darauf an, ob die Beklagte ohne Verschulden davon ausgehen konnte, daß für den geldwerten Vorteil der preisgünstigen Miete im streitbefangenen Zeitraum keine Beiträge zur Sozialversicherung zu entrichten waren. Das hat die Vorinstanz zutreffend verneint. Ein Arbeitgeber handelt im Sinne dieser Vorschriften nur dann ohne Verschulden, wenn ihm nicht einmal leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, denn der Verschuldensbegriff des § 395 Abs. 2 RVO stimmt mit dem des § 276 BGB überein (BAG Urteil vom 8. Dezember 1981 – 3 AZR 71/79 – AP Nr. 5 zu §§ 394, 395 RVO, zu II 1 a der Gründe). Zu der im Rechtsverkehr erforderlichen Sorgfalt gehört es für den Arbeitgeber unter diesen Umständen, daß er sich bei Zweifeln über die Versicherungspflicht des Arbeitnehmers bei sachkundiger Stelle, in der Regel bei der Einzugsstelle, erkundigt (BAG, a.a.O.). Auf deren Auskunft, daß ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis nicht vorliege, darf der Arbeitgeber vertrauen. Stellt sich später heraus, daß die ihm erteilte Auskunft unrichtig war und der Arbeitnehmer doch der Versicherungspflicht unterliegt, fehlt es am Verschulden des Arbeitgebers. Er darf sich aber bei unklarer Rechtslage nicht auf seine eigene Ansicht über die Versicherungsfreiheit des Arbeitnehmers verlassen, denn das wäre fahrlässig und nicht ohne Verschulden im Sinne des § 395 Abs. 2 RVO.

3. So liegt der Fall hier, denn die Beklagte hätte die Beiträge schon ab 1. Januar 1979 entrichten oder sich nach der Beitragspflicht bei der Einzugsstelle erkundigen können. Sie selbst trägt – wie jeder andere Arbeitgeber in diesem Fall – das Risiko einer irrigen Rechtsauffassung. Es ist nach dem Schutzzweck der maßgebenden Vorschriften (§ 395 Abs. 2, § 1397 Abs. 3 RVO a.F.; § 119 Abs. 3 AVG a.F.) nicht gerechtfertigt, den Arbeitnehmern das Risiko einer falschen Rechtsansicht des Arbeitgebers aufzuerlegen. Die Beklagte hätte vielmehr schon bei Erlaß des Haftungsbescheides des Finanzamts B. im Februar 1980 und während des Vorverfahrens Zweifel haben müssen, ob der geldwerte Vorteil einer preisgünstigen Miete nicht nur dem Lohnsteuerabzug, sondern ebenfalls der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Die Beklagte hat nicht behauptet, vor Zustellung des Urteils des Bundesfinanzhofes vom 25. Oktober 1985 überhaupt Überlegungen in dieser Richtung angestellt zu haben. Danach hat sie ebenfalls noch lange gezögert, statt ihre Grundsatzabteilung innerhalb von vier Wochen nach Bekanntwerden des Urteils zur Klärung der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung einzuschalten oder sich bei der Einzugsstelle zu erkundigen. Die Beklagte kann nicht darauf verweisen, eine Auskunft bei der Einzugsstelle käme einer Nachfrage bei sich selbst gleich, denn die Einzugsstellen als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden maßgeblich über die Versicherungspflicht, die Beitragspflicht und die Beitragshöhe (§ 1399 Abs. 3 RVO a.F.; § 121 Abs. 4 AVG a.F.). Die Beklagte hat aber über einen Zeitraum von fünf Jahren – gerechnet vom ersten Haftungsbescheid des Finanzamts an – abgewartet und das Auflaufen möglicher Beitragsrückstände in Kauf genommen. Das Landesarbeitsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, daß auch die Finanzgerichte den Haftungsbescheid des Finanzamts B. in der Sache selbst bestätigt haben und der Bundesfinanzhof nur deshalb den Bescheid aufgehoben hat, weil der Beklagten für den damaligen Zeitraum in den Jahren 1973 bis 1978 ein entschuldbarer Rechtsirrtum zugestanden worden sei. Das ändert nichts an der Verpflichtung der Beklagten, sich zur Vermeidung eines Verschuldens rechtzeitig nach der Sozialversicherungspflicht zu erkundigen.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Nitsche, Fischer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1015703

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