Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung nach Einigungsvertrag

 

Normenkette

Einigungsvertrag Art. 20 Abs. 1 Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2; BGB § 626

 

Verfahrensgang

BezirksG Erfurt (Urteil vom 10.06.1992; Aktenzeichen 1 Sa 13/92)

KreisG Gotha (Urteil vom 03.12.1991; Aktenzeichen 2 Ca 492/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bezirksgerichts Erfurt vom 10. Juni 1992 – 1 Sa 13/92 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Thüringer Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 5 Ziff. 2 des Einigungsvertrages (fortan: Abs. 5 Ziff. 2 EV) gestützten außerordentlichen Kündigung.

Der 1946 geborene Kläger war seit 1974 als Lehrer im Schuldienst der ehemaligen DDR beschäftigt. Ab 24. April 1987 war der Kläger aufgrund seiner Verpflichtungserklärung als inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tätig. Ausgestattet mit dem Decknamen „K. B.” war es seine Aufgabe, Hinweise zur militärischen Nachwuchsgewinnung sowie Informationen zur Lageeinschätzung der Bevölkerung zu erarbeiten. Der Kläger war mit einer Legende als Angehöriger des Wehrbezirkskommandos Erfurt ausgestattet. Am 26. Juni 1987 erhielt er einen Dienststellenausweis des Wehrbezirkskommandos.

Nach den in den Akten des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Gauck-Behörde) vorhandenen Berichten wurde der Kläger wie folgt tätig:

  • In einer handschriftlich geschriebenen und mit dem Decknamen unterzeichneten Information vom 7. Juli 1987 teilte der Kläger mit, daß der Schüler Z. der erweiterten Oberschule (EOS) „Arnoldi” den Berufswunsch Offizier in der Nationalen Volksarmee der DDR aus gesundheitlichen Gründen nicht realisieren könne.
  • In einem Bericht vom 9. September 1987 wurde die Meinung einer Gewerkschaftsversammlung in der EOS anläßlich des Besuchs des damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR in der BRD wiedergegeben.
  • Am 16. Oktober 1987 lieferte der Kläger einen detaillierten Bericht über ein Ehepaar G. aus Gotha.
  • Am 30. Oktober 1987 informierte der Kläger das MfS über den Besuch der Frau G. in der BRD und über die religiösen Bindungen der Frau G.
  • Am 12. November 1987 erstattete der Kläger einen Bericht über Herrn Schw. Aus dem Bericht geht hervor, daß der Kläger in der Nachbarschaft des Herrn Schw. recherchiert hatte.

Im November 1987 beendete der Kläger seine Tätigkeit als IM und teilte dies in einem Schreiben vom 24. November 1987 dem Wehrkreiskommando Gotha und dem Wehrbezirkskommando Erfurt wie folgt mit:

„Betrifft:

Gespräch am 24. November 1987 im WKK Gotha

Die als Ergebnis Ihrer Gesprächsführung von mir geleistete Zusage muß ich leider revidieren. Nach nochmaligem gründlichen Überlegen und im Ergebnis der Diskussion mit meiner Frau kann ich keine Gewähr bieten, die erteilte Aufgabe den Erfordernissen entsprechend zu erledigen, ohne dadurch meine Ehe zu gefährden. Da wir außerdem zwei kleine Kinder haben, kann und will ich mich nicht über diese Problemsituation hinwegsetzen und denke, damit im Sinne der sozialistischen Familienpolitik zu handeln.

Außerdem setzt der Zeitfaktor Grenzen, da zu unserer Familie vier pflegebedürftige Eltern bzw. Schwiegereltern im Alter von Ende 70 bis Anfang 80 Jahren gehören, die täglich unsere Unterstützung brauchen.

Mein sozialistisches Bewußtsein und gesellschaftliches Engagement denke ich durch meine bisherige Arbeit als Pädagoge und meinen jahrelangen Einsatz im Rahmen der GST-Arbeit innerhalb und außerhalb der Schule bewiesen zu haben und weiterhin beweisen zu wollen.”

Mit Schreiben des Schulamtsleiters beim Landratsamt Gotha vom 5. September 1991 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich zum 11. September 1991 wegen dessen Tätigkeit für das frühere MfS, hilfsweise ordentlich.

Der Kläger hat geltend gemacht, es liege kein Kündigungsgrund vor. Die Verpflichtungserklärung habe er unter starkem psychischem Druck und aus Angst vor Repressalien gegenüber seiner Familie abgegeben. Er habe jede Zusammenarbeit mit dem MfS aufgekündigt, als ihm eröffnet worden sei, sein eigentlicher Auftrag bestehe in der Beurteilung von Schülern. Seine Zusage habe er zu einem Zeitpunkt widerrufen, als mit einem Zusammenbruch des SED-Systems überhaupt noch nicht habe gerechnet werden können.

Im übrigen seien seine Berichte an das MfS unbedeutend gewesen. Der Bericht über den Schüler Z. vom 7. Juli 1987 habe lediglich Angaben enthalten, die der Schulleitung ohnedies bekannt gewesen seien. Der Bericht über die Gewerkschaftsversammlung in der Schule äußere sich nur allgemein und positiv zum Besuch des damaligen Staatsratsvorsitzenden. Die Berichte vom 16. Oktober, 30. Oktober und 12. November 1987 beträfen Recherchen über das Umfeld eines NVA-Offiziers. Hierzu habe er diverse Namen und Anschriften von Betrieben und Personen erhalten, um Erkundigungen einzuholen.

Der Kläger hat, soweit in der Revision erheblich, beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die fristlose, noch durch die ordentliche Kündigung vom 5. September 1991 aufgelöst worden sei.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat vorgetragen, ihm sei ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit dem Kläger nicht zuzumuten. Der Kläger sei für das MfS als IM engagiert und mit nicht unerheblicher Intensität tätig geworden. Seine Tätigkeit habe sich zudem auf sein berufliches Umfeld erstreckt. Der Kläger habe die Mitarbeit auch nicht aus Mut und eigener Entschlußkraft eingestellt, sondern auf Druck seiner Ehefrau und seiner Familie. Der einschlägige Sonderkündigungstatbestand des Einigungsvertrages stelle vorrangig auf die negative Ausstrahlung eines in der Vergangenheit liegenden Verhaltens auf das aktuelle Arbeitsverhältnis ab. Gerade die Schulen müßten frei sein von Verdächtigungen, daß alte Strukturen des vormals totalitären Staatsapparates noch Gewicht haben könnten.

Das Kreisgericht hat der Klage stattgegeben. Das Bezirksgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Beklagte seinen Klageabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das nunmehr zuständige Thüringer Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

A. Das Bezirksgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

Die außerordentliche Kündigung des Klägers sei unwirksam, weil dem Beklagten trotz der Tätigkeit des Klägers für das frühere MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis zumutbar erscheine. Die baldige und entschiedene Abkehr des Klägers von der Tätigkeit für das MfS rechtfertige die Weiterbeschäftigung des Klägers als Lehrer. Dabei sei zu berücksichtigen, daß der Kläger durch seine IM-Tätigkeit weder ein Vertrauensverhältnis ausgenutzt noch in die Persönlichkeitssphäre von Personen eingegriffen habe. Auch seien den observierten Personen keinerlei Nachteile entstanden.

Bei einem Bericht über einen Schüler habe der Kläger nur der Schulleitung ohnehin bekannte Tatsachen weitergegeben. Darüber hinaus habe er sich geweigert, weitere Berichte über Schüler abzugeben. Auch der Bericht über die Gewerkschaftsversammlung in der Schule habe die Meinung der Versammlung nur allgemein und zustimmend wiedergegeben. Dies sei keine konspirative Tätigkeit im eigentlichen Sinne. Gleiches gelte für die drei Berichte aus dem Umfeld eines NVA-Offiziers. Mangels entgegenstehenden Vortrags des Beklagten könne nicht angenommen werden, daß die vom Kläger erstellten Berichte über das observierte Ehepaar belastende Aussagen enthielten.

Auch die vom Beklagten vorsorglich ausgesprochene ordentliche Kündigung sei unwirksam, da der Beklagte die Kündigung ausschließlich auf die frühere Tätigkeit des Klägers für das MfS gestützt und keine weiteren Kündigungsgründe vorgetragen habe.

B. Die Ausführungen des Bezirksgerichts halten nicht in allen Punkten einer revisionsrechtlichen Prüfung stand.

1. Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist im Bereich des öffentlichen Dienstes ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit (MfS/AfNS) tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.

a) Abs. 5 Ziff. 2 EV regelt die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung im öffentlichen Dienst gegenüber § 626 BGB eigenständig und abschließend. Das ergibt sich aus dem Wortlaut der jeweiligen Vorschriften, aus dem Regelungszusammenhang des Einigungsvertrages und aus Sinn und Zweck des Sonderkündigungsrechts (vgl. BAGE 70, 309, 316 = AP Nr. 4 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu B II 1 a der Gründe; BAGE 70, 323, 326 = AP Nr. 1 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, zu A II 1 a der Gründe).

Aus der Eigenständigkeit der Kündigungsregelung in Abs. 5 Ziff. 2 EV folgt zum einen, daß es keiner doppelten Unzumutbarkeitsprüfung bedarf. Die Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung bestimmen sich allein nach Abs. 5 EV, der eine zusätzliche Interessenabwägung nach den Maßstäben des § 626 Abs. 1 BGB nicht vorsieht. Zum anderen findet § 626 Abs. 2 BGB keine Anwendung. Diese Regelung bezieht sich nach ihrem Wortlaut und ihrer systematischen Stellung nicht auf eine außerordentliche Kündigung gem. Abs. 5 EV. Anders als § 626 BGB stellt Abs. 5 EV nicht darauf ab, ob ein Festhalten am Arbeitsverhältnis „bis zu einem ordentlichen Kündigungstermin” zumutbar erscheint. Er bringt vielmehr zum Ausdruck, bei Beschäftigten, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, sei nicht hinzunehmen, daß sie überhaupt länger im öffentlichen Dienst verbleiben. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob der Arbeitgeber durch eine ungebührliche Verzögerung seinem eigenen Verhalten zuwider handelt oder einen Verwirkungstatbestand setzt.

b) Nach Abs. 5 Ziff. 2 EV ist ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das frühere MfS/AfNS tätig war. Die Vorschrift unterscheidet nach ihrem Wortlaut nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Auch für inoffizielle Mitarbeiter gilt, daß nur eine bewußte, finale Mitarbeit die Kündigung rechtfertigen kann. Das folgt aus der Verwendung der Präposition „für” anstelle der näherliegenden „beim” in Abs. 5 Ziff. 2 EV (vgl. BAGE 70, 323, 327 = AP, a.a.O., zu A II 1 c der Gründe).

c) Die außerordentliche Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß wegen der Tätigkeit für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint. Ob dies der Fall ist, muß in einer Einzelfallprüfung festgestellt werden. Abs. 5 Ziff. 2 EV ist keine „Mußbestimmung”. Nicht jedem, der für das MfS tätig war, ist zu kündigen. Das individuelle Maß der Verstrickung bestimmt über die außerordentliche Auflösbarkeit des Arbeitsverhältnisses. Je größer das Maß der Verstrickung, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme, dieser Beschäftigte sei als Angehöriger des öffentlichen Dienstes der Bevölkerung noch zumutbar (vgl. BAGE 70, 309, 320 = AP, a.a.O., zu B II 1 c der Gründe). Beim inoffiziellen Mitarbeiter wird sich der Grad der persönlichen Verstrickung vor allem aus Art. Dauer und Intensität der Tätigkeit des IM sowie aus dem Grund der Aufnahme und der Beendigung der Tätigkeit für das MfS ergeben.

d) Die Tätigkeit eines inoffiziellen Mitarbeiters ist häufig nach außen nicht erkennbar geworden. Ein inoffizieller Mitarbeiter arbeitet typischerweise verdeckt. Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, daß das Festhalten am Arbeitsverhältnis eines inoffiziellen Mitarbeiters grundsätzlich zumutbar ist, wenn er nicht entdeckt wurde und deshalb seine Tätigkeit für das MfS nicht bekannt ist. Im Fall eines inoffiziellen Mitarbeiters ist darauf abzustellen, ob das Vertrauen der Bürger in die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bei Bekanntwerden der Tätigkeit für das MfS in einer Weise beeinträchtigt wird, die das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar macht. Eine glaubwürdige rechtsstaatliche Verwaltung kann nicht aufgebaut werden auf der Annahme, die Belastung eines Mitarbeiters werde schon nicht bekannt werden.

e) Ebenfalls bei der Prüfung der Zumutbarkeit zu beachten ist die Art der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer in dem in Frage stehenden Arbeitsverhältnis ausübt. Ob das Vertrauen in die Verwaltung durch die Weiterbeschäftigung eines Arbeitnehmers erschüttert wird, hängt nicht nur von der Verstrickung des Arbeitnehmers mit dem MfS ab, sondern auch davon, welche Wirkungsmöglichkeiten und Befugnisse der Arbeitnehmer in seinem jetzigen Arbeitsverhältnis hat. Die Beschäftigung eines belasteten Arbeitnehmers mit rein vollziehender Sachbearbeitertätigkeit oder handwerklicher Tätigkeit wird das Vertrauen in die Verwaltung weniger beeinträchtigen als die Ausübung von Entscheidungs- und Schlüsselfunktionen durch einen ebenso belasteten Arbeitnehmer (BAG Urteil vom 28. Januar 1993 – 8 AZR 415/92 – NJ 1993, 379).

2. Das Landesarbeitsgericht ist zwar im wesentlichen von den aufgezeigten Grundsätzen ausgegangen. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit im Rahmen der Einzelfallprüfung hat es jedoch zur persönlichen Verstrickung des Klägers als IM keine ausreichenden Feststellungen getroffen.

a) Der Kläger war für das MfS tätig. Zwar stellt die Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung allein noch keine Tätigkeit für das MfS dar (vgl. Urteil des Senats vom 26. August 1993 – 8 AZR 561/92 – AP Nr. 8 zu Art. 20 Einigungsvertrag, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu B II 3 der Gründe, m.w.N.). Der Kläger ist aber für das MfS tätig geworden, indem er in der Zeit vom 7. Juli 1987 bis 12. November 1987 Berichte für das MfS gefertigt hat. Dabei kommt es nicht darauf an, welchen Wert die Berichte für das MfS hatten. Abs. 5 Ziff. 2 EV stellt nicht darauf ab, ob die Tätigkeit erfolgreich und nützlich für das MfS war, sondern allein auf die Tätigkeit für das MfS.

b) Ob dem Beklagten wegen der Tätigkeit des Klägers für das MfS ein Festhalten am Arbeitsverhältnis nicht zumutbar erscheint, kann nach den bisher festgestellten Tatsachen noch nicht entschieden werden.

aa) Der Kläger ist als Lehrer in einem Bereich tätig, in dem von ihm nicht nur, wie von jedem Angehörigen des öffentlichen Dienstes, zu erwarten ist, daß er jederzeit für die Grundwerte der Verfassung einsteht. Es ist vielmehr auch seine Aufgabe als Lehrer, die Werte der Verfassung seinen Schülern zu vermitteln. Die Grundrechte glaubwürdig vermitteln kann jedoch nur jemand, dessen eigene Achtung der Grundrechte nicht grundlegend in Frage gestellt wird. Bei einem Lehrer wird deshalb auch bei einer kurzfristigen IM-Tätigkeit mit nur wenigen Berichten an das MfS regelmäßig ein Pesthalten des öffentlichen Arbeitgebers am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheinen. Dabei kann es den Kläger nicht entscheidend entlasten, daß er bei seiner Anwerbung durch das MfS zunächst getäuscht wurde und sich subjektiv unter Druck gesetzt fühlte. Solche Anwerbungen entsprechen der normalen Vorgehensweise des MfS. In einer besonderen Konfliktsituation befand sich der Kläger auch nach seinen eigenen Angaben nicht.

bb) Zu Recht hat das Bezirksgericht allerdings zugunsten des Klägers gewertet, daß der Kläger seine Tätigkeit für das MfS im November 1987 von sich aus beendet hat, und zwar zu einer Zeit, in der es noch möglich war, daß auf diese Entscheidung mit Repressionen seitens des MfS reagiert wird. Damit hat der Kläger sich eindeutig dagegen entschieden, weiterhin an Grundrechtsverletzungen mitzuwirken. Ob der Kläger dabei den Druck von Seiten seiner Frau nur vorgeschoben hat oder tatsächlich von seiner Frau zu diesem Schritt gedrängt wurde, ist unbeachtlich. Der Kläger hat auf jeden Fall, wodurch auch immer motiviert, von selbst seine Tätigkeit für das MfS durch eine eindeutige und mutige Entscheidung beendet.

cc) Diese freiwillige Beendigung der MfS-Tätigkeit kann den Kläger allerdings nur dann entscheidend entlasten, wenn seine bisherige Tätigkeit für das MfS nicht schwerwiegend war und durch sie kein erheblicher Schaden eingetreten ist. Deshalb muß die IM-Tätigkeit des Klägers näher geprüft und insbesondere der Inhalt und die Wirkung der vom Kläger für das MfS gefertigten Berichte festgestellt werden. Dabei durfte das Bezirksgericht nicht mangels entgegenstehenden Vortrags des Beklagten davon ausgehen, daß der Inhalt der Berichte des Klägers harmlos gewesen sei. Da bei einem Lehrer regelmäßig auch eine kurzfristige IM-Tätigkeit eine Kündigung nach Abs. 5 Ziff. 2 EV rechtfertigt, ist es Sache des Lehrers, besondere Umstände darzulegen, die trotz seiner IM-Tätigkeit ein Festhalten am Arbeitsverhältnis zumutbar erscheinen lassen. So hat der Lehrer, der sich darauf beruft, er habe eine bedeutungslose MfS-Tätigkeit von sich aus beendet, nicht nur die freiwillige Beendigung, sondern auch die Bedeutungslosigkeit der Berichte darzulegen. Zu diesem Vortrag gehören der Inhalt der Berichte an das MfS und die Art und Weise ihrer Recherchierung. Erst dann wäre es Sache des öffentlichen Arbeitgebers darzulegen und ggf. zu beweisen, daß die Tätigkeit des Arbeitnehmers für das MfS entgegen dessen Darlegung schwerwiegend gewesen sei und ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheinen lasse.

dd) Im einzelnen hat das Bezirksgericht zu Recht den Bericht des Klägers, wonach ein Schüler aus gesundheitlichen Gründen seinen Berufswunsch, Offizier in der NVA zu werden, nicht realisieren könne, als nicht schwerwiegend angesehen. Ebenso ist der Bericht des Klägers als unerheblich zu bewerten, der sich mit der positiven Stimmung in einer Gewerkschaftsversammlung anläßlich eines Besuches des damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR befaßt.

Anders verhält es sich mit den drei weiteren Berichten aus dem Umfeld eines NVA-Offiziers. Zum Inhalt dieser Berichte fehlen die nötigen Feststellungen. Nach den „Gauck-Akten” liegt u.a. ein „detaillierter Bericht über ein Ehepaar G.” vor. Ein anderer Bericht informierte „über den Besuch der Frau G. in der BRD und über religiöse Bindungen der Frau G.”. Danach besteht durchaus die Möglichkeit einer schwerwiegenden Bespitzelungstätigkeit des Klägers, die der Kläger nicht durch die sehr allgemein gehaltene Erklärung ausräumen kann, er habe „diverse Namen und Anschriften von Betrieben und Personen erhalten, um Erkundigungen einzuholen”. Neben dem Inhalt der Berichte ist auch von Bedeutung, welchen Zweck die Berichte haben sollten und auf welche Art und Weise Erkundigungen eingeholt wurden. Hat der betroffene NVA-Offizier durch die Berichte einen Schaden erlitten oder war er durch sie gefährdet? Inwiefern wurde die Privatsphäre der Betroffenen verletzt?

3. Das Landesarbeitsgericht wird dem Kläger Gelegenheit zu geben haben, den Inhalt der Berichte vom 16. Oktober, 30. Oktober und 12. November 1987 darzulegen und zu den aufgeworfenen Fragen Stellung zu nehmen. Liegt ein dahingehender schlüssiger und nachprüfbarer substantiierter Vortrag des Klägers vor, hat der Beklagte ggf. darzutun und zu beweisen, daß die behaupteten erheblichen, nachprüfbaren Tatsachen nicht vorliegen oder trotz dieser Umstände ein Festhalten am Arbeitsverhältnis mit dem Kläger als unzumutbar erscheint. Eine Umkehr der im Kündigungsschutzprozeß allgemein bestehenden Beweislast des kündigenden Arbeitgebers findet nicht statt (vgl. Senatsurteil vom 28. April 1994 – 8 AZR 57/93 –, NJ 1994, 483, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt, zu B II 3 b der Gründe).

 

Unterschriften

Ascheid, Dr. Wittek, Mikosch, Hickler, Rödder

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1076754

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge