Entscheidungsstichwort (Thema)

Erschwerniszulage für Wagenmeister. Arbeiten innerhalb des Gleisbereichs

 

Orientierungssatz

1. Für die Auslegung des Begriffs „Gleisbereich” im Abschnitt E Nr. 18c der Anlage 1 zum LTV für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn sind die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften zu berücksichtigen.

2. Wagenmeister, die in Rangierbahnhöfen gegen Anfahren gesicherte Güterzüge kontrollieren, haben keinen Anspruch auf eine Zulage nach der genannten Tarifnorm, solange sie sich außerhalb des Gefahrenbereiches des Nachbargleises im Sinne der Unfallverhütungsvorschriften bewegen können.

3. Müssen Arbeitnehmer davon ausgehen, dass sich der Arbeitgeber mit der Zahlung einer Zulage lediglich tarifkonform verhalten will, entsteht kein Anspruch auf die Weiterzahlung aus einer betrieblichen Übung.

 

Normenkette

Zulagentarifvertrag für die Arbeitnehmerin/den Arbeitnehmer der Deutschen Bahn AG § 9; Lohntarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn Anlage 1 Abschnitt E Nr. 18c

 

Verfahrensgang

LAG Bremen (Urteil vom 06.03.2003; Aktenzeichen 3 Sa 230/02)

ArbG Bremen (Urteil vom 08.08.2002; Aktenzeichen 5 Ca 5212/02)

 

Tenor

1. Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 6. März 2003 – 3 Sa 230/02 – wird zurückgewiesen.

2. Die Kläger haben die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um einen Anspruch der Kläger auf Zahlung einer tariflichen Erschwerniszulage.

Zwei der Kläger sind seit den 70er Jahren, ein Kläger ist seit 1991, ein weiterer Kläger seit 1995 als Wagenmeister bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin in der Bahnanlage S Rbf beschäftigt und haben die Wagen von stehenden Güterzügen und deren Ladung zu untersuchen, Kleinschäden zu beheben und schadhafte Wagen und Container zu kennzeichnen. Auf die Arbeitsverhältnisse finden die Tarifverträge der Deutschen Bahn AG sowohl kraft beiderseitiger Tarifbindung als auch auf Grund einzelvertraglicher Bezugnahme Anwendung.

§ 3 Abs. 1 Manteltarifvertrag für die Arbeiter der DB AG (MTV) lautet:

„Der Arbeitsvertrag einschließlich Nebenabreden bedarf der Schriftform …”

Zuvor bestimmte § 2 Abs. 1 Nr. 3 Lohntarifvertrag für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn (LTV) seit 1984:

„Nebenabreden sind nur wirksam, wenn sie schriftlich vereinbart werden …”

Seit mindestens acht Jahren bis einschließlich Oktober 2001 erhielten die Kläger von der Beklagten die Zulage Nr. 18c des Abschnitts E der Anlage 1 zum LTV in Verbindung mit § 9 des Zulagentarifvertrages für die Arbeitnehmerin/den Arbeitnehmer der Deutschen Bahn AG (ZTV) in Höhe von 0,86 DM brutto bzw. 0,44 Euro brutto pro Stunde.

Anlage 1 Abschnitt E Nr. 18 des LTV sieht eine Zulagenberechtigung für folgende Tätigkeiten vor:

  1. „Reinigen (einschließlich Entfernen von Eis und Schnee) von Bahnhofsgleisen, von Weichen oder Weichenheizungen (einschließlich der sonstigen Wartung), von ortsfesten Signalen, Signallampen oder Zugschlußsignalen …
  2. Rangierarbeiterdienst,

    Rangierbeamtendienst, wenn die Arbeiter als Rangierleiter oder in sonstigen Tätigkeiten beschäftigt werden, bei denen sie im wesentlichen den gleichen Arbeitserschwernissen wie im Rangierarbeiterdienst ausgesetzt sind …

  3. Arbeiten während des Betriebs ohne Sicherungsposten innerhalb des Gleis- oder Weichenbereichs …”

§ 9 ZTV hat folgenden Wortlaut:

„Besitzstandszulagen

Die Tarifstellen lfd. Nr. 15c, 18b und 18c der Anlage 1 Abschnitt E LTV/LTV-DR sowie Anlage 4 Abschnitt E, Teil B Vz ATV 5 finden dem Grunde nach und in der Höhe von einheitlich 0,44 EUR solange Anwendung, bis eine Prämienregelung im Sinne von § 3 ZTV für diesen Personenkreis in Kraft tritt.”

Bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz war eine solche Prämienregelung nicht vereinbart worden.

Zu den tarifvertraglichen Bestimmungen sind „Zusätzliche Durchführungshin weise (ZD)” der Rechtsvorgängerin der Beklagten ergangen, in denen es ua. heißt:

„Zu Tarifstelle lfd. Nr. 18c

  1. Der Begriff „während des Betriebs” findet Anwendung, sobald mit einer Zug- oder Rangierfahrt gerechnet werden muß.
  2. Der Begriff „innerhalb des Gleis- und Weichenbereichs” umfaßt den Gefahrenbereich, in dem Arbeiter durch bewegte Schienenfahrzeuge gefährdet werden können und den freizuhaltenden lichten Raum (vgl. auch DS 132 03, Abschnitt 2, Abs. 23 bis 25).”

In der Sammlung von Verfügungen zum LTV für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn (SVL), die Verfügungen des Vorstands und der zentralen Hauptverwaltung sowie der Bundesbahndirektionen enthält, heißt es bzgl. der Zulage 18c:

„Die Ez für Arbeiten während des Betriebes ohne Sicherungsposten innerhalb des Gleis-und Weichenbereichs kommt in Betracht, wenn gemäß Abschnitt 10 der DS 132 03 nach Entscheidung der Sicherungsaufsicht ohne Sicherungsposten gearbeitet werden darf.”

In der Unfallverhütungsvorschrift DS 132 03 werden unter Ziff. 2 „Begriffserklärungen” zu (9) „Arbeiten” aufgeführt:

„Alle Tätigkeiten im Gefahrenbereich der Gleise bei Erstellung, Instandhaltung (Inspektion, Wartung, Instandsetzung), Reinigung und Besichtigung von Bahnanlagen und anderen Anlagen sowie Lerngänge und Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Beseitigung von Störungen an Bahnanlagen und Unfallfolgen”.

Der „Gefahrenbereich des Gleises” wird zu (21) wie folgt definiert:

„Gleisbereich, in dem Arbeitskräfte durch bewegte Schienenfahrzeuge gefährdet werden können. Der Gefahrenbereich wird in Abhängigkeit von der an der Arbeitsstelle zulässigen Geschwindigkeit von Gleismitte gemessen (vgl. Anhang 1).”

Diese Begriffsbestimmungen finden sich in ähnlicher Form in der Unfallverhütungsvorschrift GUV 5.7 (jetzt GUV-V D 33), die die DS 132 03 am 1. Januar 2000 ersetzte:

„Begriffsbestimmungen

§ 2. Im Sinne dieser Unfallverhütungsvorschrift werden folgende Begriffe bestimmt:

  1. Arbeiten im Gleisbereich sind alle Tätigkeiten, die zur Errichtung, Instandhaltung, Änderung und Beseitigung von Bahn-und anderen Anlagen im Gleisbereich durchgeführt werden, einschließlich der damit zusammenhängenden Arbeiten.
  2. Gleisbereich ist der von bewegten Schienenfahrzeugen in Anspruch genommene Raum sowie der Raum unter, neben oder über Gleisen, in dem Versicherte durch bewegte Schienenfahrzeuge gefährdet werden können. Zum Gleisbereich gehört bei elektrisch betriebenen Bahnen auch der Bereich der Fahrleitung mit den davon zusätzlich ausgehenden Gefahren des elektrischen Stromes. Der Gleisbereich schließt den in der Anlage dargestellten Gefahrenbereich ein.

Zu § 2 Nr. 1:

Damit zusammenhängende Arbeiten sind z.B. Besichtigungs-, Vermessungs- und Kontrolltätigkeiten, sowie Lerngänge und Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Beseitigung von Unfallfolgen.

Zu § 2 Nr. 2:

Die Ausdehnung des Gleisbereiches wird in Abhängigkeit von den örtlichen und betrieblichen Verhältnissen von der für den Bahnbetrieb zuständigen Stelle festgelegt; siehe auch § 4 Abs. 1.

Die in der Anlage dargestellten Gefahrenbereiche berücksichtigen nicht das Verkehren von Lademaßüberschreitungen.”

Die Tätigkeit der Kläger wird ausschließlich ohne Sicherungsposten durchgeführt. Weder die Wagenmeister der Beklagten im übrigen Bundesgebiet noch die Wagenmeister der DB Regio im Bereich B erhalten eine Erschwerniszulage, was den Klägern auch bekannt ist.

Mit Schreiben an die Kläger vom 16. November 2001 teilte die Beklagte mit, dass sie die Zahlung der Zulage mit sofortiger Wirkung einstelle. Mit Schreiben vom 26. November 2001 widersprachen die Kläger der Einstellung und forderten die Beklagte zur Weiterzahlung der Zulage auf. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 22. Februar 2002 ab.

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, ihnen stehe die geltend gemachte Erschwerniszulage bereits auf der Grundlage der tarifvertraglichen Regelungen zu. Die Tätigkeit der Wagenmeister sei von der Nr. 18c des Abschnitts E der Anlage 1 zum LTV erfasst. Zwar sei jeweils durch Signale sichergestellt, dass der zu überprüfende Zug nicht in Betrieb gesetzt werde, jedoch sei auf dem Nachbargleis stets mit Zugverkehr zu rechnen, welcher durchaus auch mit höherer Geschwindigkeit passieren könne. Insoweit seien die Kläger weder durch Signale noch durch Sicherungsposten geschützt. Beim Abschreiten der Züge könne man bereits bei leichten Körperschwankungen in den Gefährdungsbereich des Nachbargleises gelangen. Außerdem sei es bei der Kontrolle des Güterwagens vom Typ „Tbis” mit öffnungsfähigem Dach notwendig, sich in Richtung des Nachbargleises seitwärts zu lehnen, um die Dachverriegelung einsehen zu können. Ferner befänden sich zwischen den Gleisen zahlreiche Gegenstände wie zB Masten für Licht- und Lautsprecher, Sensorenanlagen und ähnliche, denen die Wagenmeister ausweichen müssten. Schließlich verringere sich der Gleisabstand in Bahnhofsnähe, so dass hier noch weniger sicherer Raum vorhanden sei. Die Beklagte selbst beurteile die Wagenuntersuchungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz als gefährlich. Insbesondere werde die Haupttätigkeit des Wagenmeisters ua. beschrieben als „Arbeiten im Gleisbereich”. Zumindest bis Ende 1999 habe die Beklagte noch Mitarbeitern, die eine Tätigkeit als Wagenmeister übernommen hätten, schriftlich zugesichert, dass „im Wagenuntersuchungsdienst für die ungesicherten Arbeiten im Gleisbereich” gemäß § 9 ZTV auch Erschwerniszulagen gezahlt würden. Dass die übrigen im Tarifvertrag erwähnten zulagenberechtigten Tätigkeiten der Nr. 18 das Tatbestandsmerkmal „ohne Sicherungsposten” nicht enthielten, bei Nr. 18c dieses aber ausdrücklich erwähnt werde, sei daraus abzuleiten, dass die Erschwernis bei Nr. 18a und b in der schmutzigen und physisch anstrengenden Tätigkeit beim Reinigen und Rangieren gesehen werde, die Gefährdung hingegen keine Rolle spiele. Daraus könne nicht der Schluss gezogen werden, Wagenmeister seien nicht zulagenberechtigt, weil die Beklagte bei dieser Tätigkeit stets auf die Sicherung durch einen Sicherungsposten verzichte.

Jedenfalls bestehe der Zulagenanspruch aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung. Ein Schriftformerfordernis gelte hierfür nicht. Zumindest sei eine Berufung der Beklagten auf die fehlende Schriftform arglistig.

Die Kläger haben beantragt

festzustellen, dass die Beklagte ihnen die Zulage Nr. 18c nach Anlage 1 Abschnitt E LTV iVm. § 9 ZTV über den 31. Oktober 2001 hinaus zu gewähren hat.

Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Ansicht vertreten, sie habe die Zahlung der Zulage zu Recht eingestellt. Die streitige tarifliche Regelung sei unter Heranziehung der Durchführungshinweise zum LTV auszulegen, welche ihrerseits auf die Unverfallverhütungsvorschrift DS 132 03 Bezug nähmen. Weitere Anhaltspunkte für die Auslegung ergäben sich aus der „Sammlung von Verfügungen zum LTV für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn (SVL)”. Die Kläger arbeiteten entgegen den Beschreibungen in der Unfallverhütungsvorschrift an stehenden Fahrzeugen/Güterwagen und somit nicht an Bahnanlagen und sonstigen Anlagen, so dass das Gefährdungskriterium nicht erfüllt sei. Weiterhin seien sie nicht im Gleis- oder Weichenbereich tätig, sondern führten ihre Arbeit überwiegend neben dem durch Signale gesicherten Gleis am stehenden Zug aus. Im Gefahrenbereich des Nachbargleises befänden sich die Kläger bei ihrer Tätigkeit nicht. Nach der sonstigen Handhabung und Auslegung der Regelwerke sei die Zulage Nr. 18c für den Personenkreis der Oberbzw. Gleisbauarbeiter und Weichenreiniger vorgesehen, da diese unstrittig im Gleisund Weichenbereich und an Bahnanlagen arbeiteten. Dies sei auch ausdrücklicher Wille der Tarifvertragsparteien gewesen. Eine Ausdehnung der Zahlung der Zulage auf einen weiteren als den vorgenannten Personenkreis sei von keiner Seite vorgesehen gewesen.

Die Beklagte hat zudem geltend gemacht, sie habe stets nur tarifgerecht vergüten wollen und sei im Hinblick auf die interne Revision auch nur hierzu berechtigt. Dies sei den Klägern bekannt gewesen, so dass diese nicht von einer bewusst übertariflichen Zahlung hätten ausgehen können, nachdem die tarifvertraglichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Eine betriebliche Übung könne nur dort entstehen, wo der Arbeitgeber in einem vertraglich nicht geregelten Bereich über längere Zeit vorbehaltlos Leistungen erbringe. Demgegenüber erbringe sie, die Beklagte, Leistungen nach Maßgabe eines umfassenden und differenziert geregelten Vergütungsgefüges, so dass eine betriebliche Übung von vornherein ausscheide. Die vom Bundesarbeitsgericht insoweit für den öffentlichen Dienst entwickelten Grundsätze müssten auf diesen Fall übertragen werden. Die Beklagte sei schließlich über die Bahnreform aus einem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber entstanden und habe nach wie vor durch Übergangsregelungen normierte umfangreiche Nachwirkungen öffentlich-rechtlicher tarifgebundener Arbeitsverhältnisse zu tragen und vor allem zu beachten. Die Kläger hätten keinen sachlichen Grund vorgetragen, aus dem sie unter Berücksichtigung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes gegenüber ihren Kollegen außerhalb der B Niederlassung und denen bei der DB Regio AG hätten bevorzugt werden sollen. Schließlich scheitere ein Anspruch aus betrieblicher Übung auch am Schriftformerfordernis des § 3 Abs. 1 MTV.

Das Arbeitsgericht hat die zunächst eigenständigen Rechtsstreite zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und gemäß dem Feststellungsantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klagen abgewiesen. Mit ihrer Revision begehren die Kläger die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist unbegründet. Sie haben keinen Anspruch auf die begehrte Erschwerniszulage.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, Nr. 18c des Abschnitts E der Anlage 1 zum LTV sei unter Berücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhangs, der Tarifgeschichte und der praktischen Tarifübung dahin auszulegen, dass nur solche Arbeiten den Zulagenanspruch auslösten, die regelmäßig oder zumindest dann und wann mit Sicherungsposten durchgeführt würden. Das sei bei den von den Klägern zu leistenden Arbeiten nicht der Fall. Auch ein Anspruch aus einer betrieblichen Übung sei nicht gegeben, weil die Kläger nicht hätten annehmen dürfen, die Beklagte wolle eine außertarifliche Leistung erbringen, zumal sie selbst die Zulage nur als tarifgemäße Leistung angesehen hätten. Auch stehe einer entsprechenden betrieblichen Übung das Schriftformerfordernis des § 3 Abs. 1 MTV entgegen, denn insoweit gehe es um eine Nebenabrede.

II. Dem folgt der Senat im Ergebnis.

1. Für die Tätigkeit der Kläger besteht zumindest im Regelfall kein Zulagenanspruch gem. § 9 ZTV iVm. Nr. 18c des Abschnitts E der Anlage 1 zum LTV. Dies ergibt die Auslegung der Tarifvorschrift.

a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 –AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 mwN; zuletzt 4. Juni 2003 –10 AZR 579/02 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Arbeiterwohlfahrt Nr. 7, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).

b) Soweit danach die Vorinstanzen im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal „ohne Sicherungsposten” schon dem Wortlaut und systematischen Zusammenhang der Tarifnorm entnehmen wollen, dass nur solche Arbeiten zulagenpflichtig sein könnten, die regelmäßig oder zumindest dann und wann mit Sicherungsposten durchgeführt werden, ist dem allerdings nicht zu folgen.

Anspruchsauslösend sollen gem. Nr. 18c Arbeiten „innerhalb des Gleis-und Weichenbereichs” sein, wenn sie „während des Betriebs” durchgeführt werden, ohne dass die hierdurch ausgelöste Gefährdung der Arbeitnehmer durch Sicherungsposten gemindert wird. Eine Unterscheidung danach, ob die genannten Arbeiten stets ohne Sicherungsposten durchgeführt werden bzw. nach einschlägigem Arbeitssicherheitsrecht durchgeführt werden dürfen oder nicht, lässt sich der Tarifvorschrift nicht entnehmen. Nr. 18a und b sind, wie die Kläger mit Recht rügen, insoweit ohne Aussagekraft, weil sie völlig andere Anspruchsvoraussetzungen vorsehen und nicht nur auf das Tatbestandsmerkmal „ohne Sicherungsposten”, sondern auch auf die Tatbestandsmerkmale „während des Betriebs” und „innerhalb des Gleis- und Weichenbereichs” verzichten. Auch die Verfügung der Rechtsvorgängerin der Beklagten, wonach die Erschwerniszulage nach Nr. 18c dann in Betracht kommt, „wenn gemäß Abschnitt 10 der DS 132 03 nach Entscheidung der Sicherungsaufsicht ohne Sicherungsposten gearbeitet werden darf”, dürfte nicht den Schluss zulassen, die Zulage sei an Wagenmeister deshalb nicht zu zahlen, weil deren Arbeit stets ohne Sicherungsposten durchgeführt werde; jedenfalls kann auf diese Verfügung mangels Tarifnormqualität bei der auf den Wortlaut und den systematischen Zusammenhang abstellenden Auslegung der Nr. 18c nicht zurückgegriffen werden.

c) Die Kläger arbeiten jedoch regelmäßig nicht gemäß Nr. 18c „innerhalb des Gleis- und Weichenbereichs”.

aa) Zwar kann für die nähere Bestimmung dieses Bereichs nicht unmittelbar auf die „zusätzlichen Durchführungshinweise (ZD)” der Rechtsvorgängerin der Beklagten zum LTV abgestellt werden, weil es sich dabei nicht um Bestandteile des Tarifvertrages, sondern um bloße Erläuterungen und Weisungen der Arbeitgeberin handelt. Da es sich jedoch bei der Nr. 18c der Sache nach um die Regelung einer Gefahrenzulage handelt, ist bei der Auslegung dieser Zweck der Tarifnorm zu berücksichtigen. Von daher ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien auf eine eigenständige Definition des genannten Gefahrenbereichs im Tarifvertrag verzichtet haben, weil insoweit auf Begriffe und Definitionen in einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften zurückgegriffen werden kann, die gerade der Abwehr bzw. Einschränkung von Gefahren für die in diesem Bereich beschäftigten Arbeitnehmer dienen. Diese Begriffe und Definitionen sind deshalb bei der Auslegung der Nr. 18c heranzuziehen.

bb) Einschlägig ist insoweit die Unfallverhütungsvorschrift „Arbeiten im Bereich von Gleisen” (vormals DS 132 03, dann GUV 5.7, jetzt GUV-V D 33). Gemäß § 2 Nr. 2 dieser Unfallverhütungsvorschrift gehört zum Gleisbereich außer dem von bewegten Schienenfahrzeugen in Anspruch genommenen Raum auch der Raum neben Gleisen, in dem die Arbeitnehmer durch bewegte Schienenfahrzeuge gefährdet werden können. Der Gleisbereich schließt den in der Anlage zu § 2 Nr. 2 dargestellten Gefahrenbereich ein. Gemäß dieser Anlage beträgt der Gefahrenbereich, wenn die bewegten Schienenfahrzeuge nicht schneller als 40 km/h fahren, 1,85 m von der Gleismitte an gerechnet. Den Arbeitnehmern muss im Anschluss an diesen Gefahrenbereich neben dem Gleis ein Sicherheitsraum von 0,5 m verbleiben, bei Arbeiten zwischen zwei Gleisen ein Sicherheitsraum bis zum Gefahrenbereich des Nachbargleises von 0,8 m. Daraus errechnet sich bei Fahrten auf beiden Gleisen mit nicht mehr als 40 km/h ein Gleisabstand von Gleismitte zu Gleismitte von mindestens 4,50 m.

cc) Die Kläger verrichten ihre Arbeit unstreitig an und neben nicht bewegten Zügen, wobei sichergestellt ist, dass diese nicht während der Arbeit anfahren. Die Kläger bewegen sich dabei nach der Behauptung der Beklagten grundsätzlich innerhalb eines Sicherheitsraums von 0,8 m neben dem Gefahrenbereich des Nachbargleises, auf dem Rangierfahrten mit bis zu 40 km/h stattfinden können. Danach arbeiten die Kläger grundsätzlich nicht im Gleisbereich, vielmehr in einem Sicherheitsraum, der den gebotenen Sicherheitsraum um 30 cm übersteigt. Die Zulage würde ihnen nach dem tariflichen Bestimmungen nur für solche Arbeiten zustehen, bei denen der Gleisabstand zwischen dem Gleis des kontrollierten Zuges und dem befahrenen Nachbargleis weniger als 4,20 m von Gleismitte zu Gleismitte beträgt oder bei denen die Art der zu kontrollierenden Wagen bzw. sonstige Umstände es erfordern, sich in den Gefahrenbereich des Nachbargleises zu bewegen. Dem Vorbringen der Kläger lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass dies bei ihrer Arbeit ständig oder zu bestimmten Zeiten der Fall wäre. Soweit sie vorgetragen haben, dass sich innerhalb des Sicherheitsraums Hindernisse befänden, denen sie ausweichen müssten, ist schon nicht ersichtlich, dass sie diese Hindernisse nicht auf der dem kontrollierten Zug zugewandten Seite umgehen können. Auch dass der Gleisabstand in der Bahnanlage S Rbf durchgehend oder in bestimmten Arbeitsbereichen 4,20 m unterschreitet, haben sie nicht behauptet. Soweit es zutreffen sollte, dass bei der Kontrolle bestimmter Güterwagen – die Kläger nennen den Typ „Tbis” – der Sicherheitsraum verlassen werden müsste, könnte zwar für diese Arbeiten ein Zulagenanspruch bestehen (vgl. Vorbemerkung (1) 1.a zum Abschnitt E der Anlage 1 zum LTV); insbesondere zum zeitlichen Umfang dieser Arbeiten haben die Kläger jedoch nichts weiter vorgetragen und auf einen derart zeitlich begrenzten Anspruch bezieht sich ihr Feststellungsantrag auch nicht.

d) Da bereits die vom Wortlaut ausgehende Auslegung der Nr. 18c unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks dieser Tarifnorm zu einem eindeutigen Ergebnis führt, bedarf es keines Rückgriffs auf Auslegungskriterien wie Tarifgeschichte und praktische Tarifübung. Es ist im Ergebnis jedoch nicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgericht ergänzend auf eine entsprechende praktische Tarifübung hingewiesen hat. Zwar bestand die Zulagenregelung entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht bereits seit 1960, sondern erst seit 1975. Dies ändert aber nichts daran, dass Wagenmeister die Zulage viele Jahre lang nicht und im ganz überwiegenden Tarifgebiet nie erhielten und dass sie diese Vergütungspraxis ebenso wenig in Zweifel zogen wie die tarifschließende Gewerkschaft und deren Rechtsnachfolgerinnen.

2. Uneingeschränkt ist dem Landesarbeitsgericht darin zu folgen, dass die Kläger auch aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung keinen Anspruch auf eine Zulage geltend machen können, wie sie Nr. 18c vorsieht.

a) Unter einer betrieblichen Übung ist ein gleichförmiges und wiederholtes Verhalten des Arbeitgebers zu verstehen, aus dem die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden (ständige Rechtsprechung, vgl. zB BAG 5. Februar 1971 – 3 AZR 28/70 – BAGE 23, 213, 218 ff. mwN). Die betriebliche Übung gründet sich auf eine Willenserklärung des Arbeitgebers, die von den Arbeitnehmern konkludent angenommen wird (§ 151 BGB); dadurch entstehen arbeitsvertragliche Ansprüche der Arbeitnehmer auf die üblich gewordenen Leistungen. Für die Begründung eines solchen Anspruchs auf betriebliche Übung kommt es dabei nicht darauf an, ob der Arbeitgeber einen Verpflichtungswillen hatte; maßgebend ist vielmehr, ob die Arbeitnehmer aus dem Erklärungsverhalten des Arbeitgebers unter Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie aller Begleitumstände auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften und das entsprechende Angebot stillschweigend annehmen konnten. Die Bindungswirkung tritt ein, wenn die Arbeitnehmer auf Grund des Verhaltens des Arbeitgebers darauf vertrauen dürfen, die Leistung solle auch für die Zukunft gewährt werden (BAG 26. Mai 1993 – 4 AZR 130/93 – BAGE 73, 191; 7. Mai 1986 – 4 AZR 556/83 – BAGE 52, 33, 49; 3. August 1982 – 3 AZR 503/79 – BAGE 39, 271, 276).

b) Die Kläger nahmen und nehmen immer noch an, dass es sich bei der von ihnen geleisteten Arbeit um eine solche nach Nr. 18c handelt. Sie konnten und mussten deshalb davon ausgehen, dass sich auch die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgängerin bei der Gewährung der Zulage tarifkonform verhalten wollte. Dies gilt um so mehr, als sich die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerin bei der Zahlung der Zulage auf eben die genannte Norm bezogen (vgl. für die Bezugnahme auf eine Versorgungsordnung BAG23. April 2002 – 3 AZR 224/01 – BAGE 101, 122). Unter diesen Umständen war die Beklagte nicht durch eine entgegenstehende betriebliche Übung gehindert, die tariflichen Voraussetzungen für die Zulage zu überprüfen und ihre Vergütungspraxis der tariflichen Rechtslage anzupassen (BAG 25. Juli 2001 – 10 AZR 758/00 – EzA BGB § 611 Schichtarbeit Nr. 2 mwN).

c) Dazu kommt, dass die zu a) genannten Grundsätze nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts für Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes nicht uneingeschränkt gelten. Dort kann ein Arbeitnehmer nicht ohne weiteres aus der mehrmaligen Gewährung einer Vergünstigung auf einen entsprechenden Bindungswillen des Arbeitgebers schließen. Das hat seinen Grund darin, dass die durch Anweisungen vorgesetzter Dienststellen, Verwaltungsrichtlinien und Verordnungen, vor allem durch die Festlegungen des Haushaltsplans gebundenen öffentlichen Arbeitgeber anders als private Arbeitgeber gehalten sind, sich bei der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse an die Mindestbedingungen des Tarifrechts und der Haushaltsvorgaben zu halten. Im Zweifel gilt Normvollzug. Ein Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst muss deshalb grundsätzlich davon ausgehen, dass ihm der Arbeitgeber nur die Leistungen gewähren will, zu denen er rechtlich verpflichtet ist (BAG 18. September 2002 – 1 AZR 477/01 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 59 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 48 mwN, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).

Bei der Beklagten handelte es sich allerdings nicht um einen öffentlichrechtlichen Arbeitgeber. Ein solcher war aber die Rechtsvorgängerin der Beklagten, als die Zahlung der Zulage begann. Auch deshalb konnten die begünstigten Wagenmeister nicht davon ausgehen, mit der Gewährung der Zulage solle ihnen eine über-oder außertarifliche Leistung gewährt werden. Trotz der langjährigen Zahlung der Zulage mussten sie mit einer Einstellung für den Fall rechnen, dass die Zahlungen in falscher Anwendung der Nr. 18c erbracht wurden (BAG 20. September 2000 – 5 AZR 20/99 – AP BMT-G II § 8 Nr. 1 mwN). Für eine bloß irrtümliche Zahlung der Zulage sprach zudem, dass diese, wie die Kläger wussten, außerhalb der Bezirksdirektion B nicht gewährt wurde und im Übrigen auch dort nicht an alle Gruppen der Wagenmeister (vgl. allerdings für die fehlerhafte Anwendung einer Konzernbetriebsvereinbarung durch ein einzelnes beherrschtes Unternehmen –BAG 22. Januar 2002 – 3 AZR 554/00 – AP BetrVG 1972 § 77 Betriebsvereinbarung Nr. 4 = EzA BetrVG 1972 § 77 Ruhestand Nr. 2). Besondere Umstände, die demgegenüber den Schluss begründen könnten, die Bevorzugung der Kläger gegenüber ihren Kollegen im restlichen Tarifgebiet und denen bei der DB Regio sei gewollt gewesen und nicht bloß irrtümlich erfolgt, haben die Kläger nicht vorgetragen.

d) Es bedarf deshalb keiner Entscheidung, ob einer entsprechenden betrieblichen Übung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 LTV, § 3 Abs. 1 MTV auch die fehlende Schriftform entgegenstünde (vgl. dazu BAG 18. September 2002 – 1 AZR 477/01 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 59 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 48 mwN, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).

III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Fischermeier, Marquardt, Brühler, Schaeff, Großmann

 

Fundstellen

Haufe-Index 1125168

NZA 2005, 600

ZTR 2004, 316

AP, 0

NJOZ 2005, 1852

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