Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonderzuwendung. Kürzung bei Krankheit. Gratifikation. Sondervergütung. Tarifauslegung

 

Orientierungssatz

  • Die Sonderzuwendung der Angestellten der Druckindustrie im Land Nordrhein-Westfalen durfte im Jahr 2000 wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten nicht gekürzt werden, da der gültige Manteltarifvertrag dies nicht vorsah.
  • Zwar bestimmt § 20 Abs. 5 dieses Tarifvertrags für solche Vorschriften, die dem bundesweit gültigen MTV gewAN sinngemäß entsprechen oder gleichlauten, die Anwendbarkeit der Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN, jedoch finden sich Kürzungsregeln für gewerbliche Arbeitnehmer nicht in solchen Durchführungsbestimmungen, sondern in Protokollnotizen.
  • Die Vorschrift ist nicht so auszulegen, daß mit Durchführungsbestimmungen auch Protokollnotizen gemeint sind, da die Tarifvertragsparteien die Begriffe unterschiedlich definieren und verwenden.
 

Normenkette

Manteltarifvertrag für die Angestellten der Druckindustrie im Land Nordrhein-Westfalen vom 27. Februar 1997 (MTV Angestellte NRW) §§ 9, 20 Abs. 5; Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 6. Februar 1997 (MTV gewAN) § 9; Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 6. Februar 1997 (MTV gewAN) mit Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 § 17

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 12.10.2001; Aktenzeichen 14 Sa 902/01)

ArbG Essen (Urteil vom 22.03.2001; Aktenzeichen 3 Ca 459/01)

 

Tenor

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die tarifliche Jahresleistung der Klägerin für das Jahr 2000 im Hinblick auf krankheitsbedingte Fehlzeiten zu kürzen.

Die Klägerin arbeitet seit dem 1. April 1986 als Finanzbuchhalterin für die Beklagte. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit die tariflichen Bestimmungen für die Angestellten der Druckindustrie in Nordrhein-Westfalen Anwendung. Die Klägerin ist teilzeitbeschäftigt mit einer täglichen Arbeitszeit von fünf Stunden an jeweils fünf Tagen pro Woche. Sie bezog im Jahr 2000 ein tarifliches Entgelt in Höhe von 4.197,14 DM brutto. Die Klägerin fehlte krankheitsbedingt im Jahr 2000 vom 25. Februar bis zum 3. März und sodann fortlaufend seit dem 7. Juli.

Die Beklagte kehrte an die Klägerin mit der Gehaltsabrechnung November 2000 eine Jahresleistung in Höhe von 3.460,44 DM brutto aus und nahm wegen der krankheitsbedingten Fehlzeiten einen Abzug in Höhe von 526,84 DM vor.

Die tarifliche Jahresleistung ist in § 9 des Manteltarifvertrages für die Angestellten der Druckindustrie im Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung vom 27. Februar 1997 (MTV Angestellte NRW), abgeschlossen zwischen der IG Medien, Druck und Papier, Publizistik und Kunst, Landesbezirk NRW einerseits und den Verbänden der Druckindustrie Nordrhein e.V. und Westfalen Lippe e.V. andererseits – soweit hier von Interesse – wie folgt geregelt:

  • Die Angestellten und Auszubildenden erhalten eine tarifliche Jahresleistung in Höhe von 95 % des jeweiligen zum Fälligkeitszeitpunkt gültigen tariflichen Monatsgehaltes bzw. der tariflichen Ausbildungsvergütung.
  • Voraussetzung für den vollen Anspruch ist ein ungekündigtes Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis, das seit dem 4. Januar bis einschließlich 31. Dezember des laufenden Fälligkeitsjahres besteht.

    Angestellte bzw. Auszubildende, deren Arbeits- bzw. Ausbildungsverhältnis nach dem 4. Januar des laufenden Fälligkeitsjahres beginnt und die Probezeit besteht, erhalten für jeden vollen Kalendermonat des Bestehens ihres Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnisses 1/12 der tariflichen Jahresleistung.

  • Angestellte bzw. Auszubildende, deren Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis kraft Gesetzes oder durch Vereinbarung während des ganzen Kalenderjahres ruht, erhalten keine Leistungen. Ruht das Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis im Kalenderjahr jedoch nur zeitweise, so erhalten sie eine anteilige Leistung.
  • Angestellte, die wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit bzw. wegen Erreichens der Altersgrenze ausscheiden, erhalten eine anteilige Leistung, auch wenn das Anstellungsverhältnis am 31. Dezember nicht mehr besteht. In diesen Fällen wird die Auszahlung der Jahresleistung fällig mit dem Tage der Beendigung des Anstellungsverhältnisses.
  • Teilzeitbeschäftigte erhalten eine anteilige Jahresleistung nach dem Verhältnis ihrer vereinbarten Arbeitszeit zur tariflichen Arbeitszeit.…
  • Die Auszahlung der Jahresleistung ist spätestens am 31. Dezember eines jeden Jahres fällig. Der Auszahlungszeitpunkt wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. Frühere Auszahlungen gelten als Vorschuß.

    …”

In § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW, der auf Vorschriften des bundesweit gültigen Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie verweist, heißt es:

“Bei Bestimmungen dieses Vertrages, die dem MTV gewerbliche Arbeitnehmer sinngemäß entsprechen bzw. gleich lauten, finden die Durchführungsbestimmungen des MTV gewerbliche Arbeitnehmer Anwendung.”

Für die gewerblichen Arbeitnehmer besteht eine § 9 MTV Angestellte NRW nahezu gleichlautende Regelung der tariflichen Jahresleistung in § 9 des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 6. Februar 1997 (MTV gewAN), abgeschlossen zwischen dem Hauptvorstand der IG Medien, Druck und Papier, Publizistik und Kunst einerseits und dem Bundesverband Druck e.V. andererseits. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Durchführungsbestimmungen, aber zwei Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974. In der Protokollnotiz vom 19. November 1974 heißt es:

  • “Der Bundesverband Druck und die IG Druck und Papier einigten sich am 19. November 1974 zur Auslegung und Ergänzung der Regelungen über die tarifliche Jahresleistung in § 9 auf folgendes:
  • Eine anteilige Kürzung der tariflichen Jahresleistung erfolgt je Tag der Abwesenheit bei

    • Unterbrechungen der Arbeitsleistung zu Bildungs- und Fortbildungszwecken, soweit sie die Dauer von drei Wochen im Kalenderjahr überschreiten,
    • sonstigen unbezahlten Freistellungen, soweit sie insgesamt die Dauer von fünf Arbeitstagen im Kalenderjahr überschreiten,
    • krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechungen, soweit sie insgesamt die Dauer von vier Monaten im Kalenderjahr überschreiten,
    • unentschuldigtem Fernbleiben von der Arbeit.
  • Der Betrag pro Abzugstag errechnet sich einheitlich nach folgender Formel:

    …”

Der MTV gewAN enthält weitere Protokollnotizen und zu den einzelnen Vorschriften jeweils Durchführungsbestimmungen. § 17 MTV gewAN regelt:

“Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Manteltarifvertrag sind Bestandteil dieses Tarifvertrages. Sie enthalten nicht nur Erläuterungen, sondern auch den Stammtext ergänzende und ändernde Bestimmungen. Insoweit sind die Durchführungsbestimmungen selbständiges Tarifrecht.”

Die Klägerin hält die Kürzung der tariflichen Jahresleistung für unberechtigt, weil nach § 20 Abs. 5 MTV nur die Anwendung der Durchführungsbestimmungen, nicht aber der Protokollnotizen aus dem MTV gewAN vereinbart worden sei. Ein anderer über den Wortlaut hinausgehender Wille der Tarifvertragsparteien, Protokollnotizen mit Durchführungsbestimmungen gleichzustellen, habe im MTV Angestellte keinen Niederschlag gefunden. Im Gegenteil seien im MTV Angestellte NRW zum Teil wörtlich aus dem MTV gewAN entnommene Protokollnotizen und Durchführungsbestimmungen enthalten. Etwaige redaktionelle Versäumnisse hätten zudem im Rahmen der letztmalig zum 27. Februar 1997 vorgenommenen Änderungen des MTV korrigiert werden können. Es seien auch Gründe für eine unterschiedliche Behandlung beider Arbeitnehmergruppen denkbar, zB ein in der Regel höherer Krankenstand der gewerblichen Arbeitnehmer.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 526,84 DM brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, der fehlende Verweis auf die Protokollnotizen in § 20 Abs. 5 MTV Druck sei lediglich ein redaktionelles Versehen. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien sollten beide Arbeitnehmergruppen gleichbehandelt werden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Klägerin war das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben und die erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch zu.

  • Nach Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW dahin auszulegen, daß zu den Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN auch die Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 zählten. Die in § 17 MTV gewAN enthaltene Definition der Durchführungsbestimmungen treffe uneingeschränkt auch auf die Bestimmungen der Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 zu, da sie inhaltlich wie Durchführungsbestimmungen die Tarifnorm des § 9 MTV gewAN ergänzten. Auch sie seien gültiges Tarifrecht. Daß sie nicht als Durchführungsvorschriften im Tarifvertrag aufgeführt seien, sei historisch zu erklären, da sie erst nach mehr als einem halben Jahr nach dem Abschluß des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer vom 6. März 1974 vereinbart worden seien. Nach Sinn und Zweck von § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW sollten die in den Betrieben der Druckindustrie beschäftigten Angestellten ebenso behandelt werden, wie die gewerblichen Mitarbeiter. Demgegenüber würde es zu einer krassen Ungleichbehandlung verschiedener Arbeitnehmergruppen im Betrieb führen, wenn gewerbliche Arbeitnehmer im Gegensatz zu den Angestellten eine Kürzung der Jahresleistung nach Maßgabe der Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 gewärtigen müßten.
  • Dem folgt der Senat nicht.

    • Die Klägerin erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen der vollen Jahresleistung in § 9 Abs. 2 MTV Angestellte NRW, da sie im gesamten Bezugsjahr 2000 in einem ungekündigten Arbeitsverhältnis gestanden hat.
    • Der Anspruch ist nicht gem. § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW in Verbindung mit Ziff. I. 2.c der Protokollnotiz vom 19. November 1974 wegen der krankheitsbedingten Fehlzeiten der Klägerin zu kürzen. Die Anwendung der Protokollnotizen zu § 9 MTV gewAN auf den Anspruch der Angestellten nach § 9 MTV Angestellte NRW im Wege der Auslegung von § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW scheidet im Hinblick auf den Wortlaut dieser Norm aus, da nur Durchführungsbestimmungen erfaßt sein sollen.

      • Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Wortlaut zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20. März 2002 – 10 AZR 518/01 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP §§ 22, 23 BAT Zulagen Nr. 11).
      • Nach dem Tarifwortlaut von § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW finden die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN Anwendung, wenn Bestimmungen des Tarifvertrages dem MTV gewAN sinngemäß entsprechen bzw. gleich lauten.

        Beim Wortlaut der Tarifbestimmung ist grundsätzlich auszugehen vom allgemeinen Sprachgebrauch, wie er sich aus Wörterbüchern und Lexika ergibt (BAG 18. Januar 2001 – 6 AZR 529/99 – EzA TVG § 4 Bundespost Nr. 15; 30. März 2000 – 6 AZR 636/98 – ZTR 2001, 73). Danach sind Durchführungsbestimmungen “Bestimmungen, wie etwas (bes. Gesetz, Anordnung) durchgeführt werden soll” (Wahrig Deutsches Wörterbuch 6. Aufl. S 382). Nach allgemeinem Sprachgebrauch können die Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 danach Durchführungsbestimmungen sein, weil sie bestimmen, wie die Jahresleistung bei krankheitsbedingten und anderen Ausfallzeiten berechnet wird.

        Der allgemeine Sprachgebrauch wird aber dann verdrängt, wenn die Tarifvertragsparteien die benutzten Tarifbegriffe eigenständig definieren oder branchenspezifisch differenzieren (BAG 18. Januar 2001 – 6 AZR 529/99 – aaO; 30. März 2000 – 6 AZR 636/98 – aaO; 24. Oktober 2001 – 10 AZR 46/01 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 31; vgl. BAG 20. August 1986 – 4 AZR 257/85 – AP § 1 TVG Tarifverträge: Presse Nr. 6 = EzA TVG § 4 Presse Nr. 2). So ist es hier.

        Die Tarifvertragsparteien des MTV gewAN differenzieren deutlich zwischen Durchführungsbestimmungen und Protokollnotizen. Sie haben in § 17 bestimmt, daß die Durchführungsbestimmungen Bestandteile des Tarifvertrages sind und nicht nur Erläuterungen, sondern auch den Stammtext ergänzende und ändernde Bestimmungen enthalten. Sie haben auch kenntlich gemacht, wann eine Durchführungsbestimmung im Sinne von § 17 MTV vorliegt, indem sie die jeweiligen Passagen des Tarifvertrages mit einer entsprechenden Überschrift versehen und auch drucktechnisch hervorgehoben haben. Teilweise haben sie sogar den Durchführungsbestimmungen Protokollnotizen zugefügt (zB zu § 3 Arbeitszeit).

        Dieser Terminologie folgt der MTV Angestellte NRW. Auch dieser Tarifvertrag verwendet die Begriffe “Protokollnotiz” und “Durchführungsbestimmung”. Er enthält Protokollnotizen (zB zu § 2 Arbeitszeit und § 11 Urlaubsbezahlung) wie auch Durchführungsbestimmungen (zB zu § 2 Arbeitszeit, § 3 Teilzeitarbeit, § 6 Gesundheitsschutz, § 7 Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit). Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien bei der Wortwahl in beiden Tarifwerken die gleiche Begrifflichkeit zugrunde gelegt haben (vgl. BAG 14. Januar 1987 – 4 AZR 375/86 – AP TVG § 1 Tarifverträge Druckindustrie Nr. 12 = EzA TVG § 4 Druckindustrie Nr. 8). An dieser eigenständigen branchenspezifischen Begrifflichkeit ändert sich nichts dadurch, daß auch die hier streitigen Protokollnotizen Normqualität haben.

      • Über den reinen Wortlaut hinaus sind Tarifnormen auch nach dem tariflichen Gesamtzusammenhang auszulegen, weil der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der beabsichtigte Sinn und Zweck einer Tarifnorm sich regelmäßig nur bei Mitberücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhangs ergeben. Wegen der weitreichenden Wirkungen der Tarifnormen auf Rechtsverhältnisse der Tarifunterworfenen, die an den Verhandlungen nicht beteiligt sind, muß im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit dieser Wille in den tariflichen Normen aber seinen Niederschlag gefunden haben (BAG 31. Oktober 1990 – 4 AZR 114/90 – BAGE 66, 177). Dies ist nicht der Fall, selbst wenn die Tarifvertragsparteien beabsichtigt haben sollten, Arbeiter und Angestellte bei der Kürzung von Jahresleistungen gleich zu behandeln.

        • Die Tarifvertragsparteien haben zum MTV Angestellte NRW einerseits eigene Protokollnotizen vereinbart (zB zu § 11 Urlaubsbezahlung). Sie haben – im Gegensatz zu den Protokollnotizen zu § 9 MTV gewAN – an anderer Stelle Protokollnotizen aus dem MTV gewAN wörtlich übernommen (zB zu § 2 Arbeitszeit “Wartung von Betriebsmitteln” und “bezahlte Freistellungen”). Dies wäre nicht erforderlich, wenn nach der Vorstellung der Tarifvertragsparteien bereits nach § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW die Protokollnotizen zum MTV gewAN grundsätzlich anwendbar wären. Daß nach dem Willen der Tarifvertragsparteien in § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW neben den Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN, auch die Protokollnotizen in Bezug genommen werden sollen, läßt sich deshalb dem tariflichen Gesamtzusammenhang nicht entnehmen.
        • Dies bestätigt auch ein Vergleich mit anderen Tarifwerken für Angestellte der Druckindustrie. Sie enthalten zu § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW nahezu wortgleiche Bestimmungen, ohne daß die Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 von diesen Vorschriften erfaßt werden.

          Der Manteltarifvertrag für Angestellte der Druckindustrie in Niedersachsen und Bremen vom 8. April 1997 bestimmt in einer Protokollnotiz, die § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW im Wortlaut nahezu entspricht, daß die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN bei gleichlautenden oder sinngemäß entsprechenden Bestimmungen zur Anwendung kommen; die Protokollnotizen zu § 9 MTV gewAN werden von dieser Bestimmung nicht erfaßt. Die Kürzung der Jahresleistung regelt sich nach § 8 Abs. 10 MTV Angestellte Niedersachsen/Bremen nach dem Anhang 2, der wiederum der streitgegenständlichen Protokollnotiz vom 19. November 1974 inhaltlich entspricht.

          Auch der Manteltarifvertrag für die Angestellten der Druckindustrie in Baden-Württemberg enthält in der Anlage eine § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW entsprechende Protokollnotiz, ohne die Protokollnotizen zu § 9 MTV gewAN zu erfassen. In diesem Tarifwerk wird die Kürzung der Jahresleistung ausdrücklich in § 11 Abs. 3 geregelt.

          Ein redaktionelles Versehen ist deshalb nicht anzunehmen, wenn in § 20 Abs. 5 lediglich die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN in Bezug genommen wurden.

      • Auch Sinn und Zweck von § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW zwingen nicht dazu, die Verweisung auf die streitgegenständlichen Protokollnotizen zu erstrecken. Die Vorschrift ist ohne den Einbezug der Protokollnotizen nicht sinnentleert, wenn sie – wie in den Parallelvorschriften anderer Tarifwerke für Angestellte der Druckindustrie – nur auf die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN verweist. Sie hat ihren eigenständigen Regelungsgehalt, da in einer Vielzahl von Fällen die Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN nur über diese Verweisungsvorschrift anwendbar sind.

        Es ist möglich, daß die Tarifvertragsparteien eine einheitliche Anwendung gleichlautender Tarifnormen gewollt haben. Dieser Wille hat jedoch nur in Bezug auf die Anwendung der Durchführungsbestimmungen im MTV Angestellte NRW seinen Niederschlag gefunden.

      • Auch eine historische Betrachtung läßt keinen sicheren Rückschluß darauf zu, daß neben den Durchführungsbestimmungen des MTV gewAN auch die streitgegenständlichen Protokollnotizen in Bezug genommen werden sollten. Diese datieren in ihrer ursprünglichen Fassung vom 19. November und 19. Dezember 1974. Sowohl der Manteltarifvertrag für kaufmännische und technische Angestellte der Druckindustrie im Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Juli 1974 als auch der nachfolgende Manteltarifvertrag für die Angestellten der Druckindustrie in Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1980 haben in § 5a bzw. § 7 einen Anspruch auf die tarifliche Jahresleistung normiert, ohne ihn bei krankheitsbedingten Fehlzeiten einer Kürzung zu unterwerfen, während gewerbliche Arbeitnehmer nach Maßgabe der Protokollnotiz zu § 9 MTV gewAN seit 1974 von der Kürzungsmöglichkeit betroffen waren. Nach 15 Jahren eindeutig unterschiedlicher Regelung wurde erst mit dem Manteltarifvertrag für Angestellte der Druckindustrie im Land Nordrhein-Westfalen vom 24. April 1989 § 20 Abs. 5 in das Tarifwerk aufgenommen. Ein Gleichlauf der Kürzungsregelungen bei gewerblichen Arbeitnehmern und Angestellten, der einen sicheren Rückschluß auf einen entsprechenden Willen der Tarifvertragsparteien zuließe, ist deshalb nicht festzustellen.

        Es kommt nicht darauf an, aus welchem Grund die Kürzung der Jahresleistung nicht als Durchführungsbestimmung sondern als Protokollnotiz vereinbart wurde, da die Tarifvertragsparteien in Kenntnis der Bezeichnung als Protokollnotiz nur eine Verweisung auf die Durchführungsbestimmungen vereinbart haben.

      • Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts führt die wortgetreue Anwendung des Tarifvertrages auch nicht zu unsachgemäßen Ergebnissen. Unabhängig davon, ob es beachtliche sachliche Gründe für die Nichtanwendung der Protokollnotizen vom 19. November und 19. Dezember 1974 gibt, widerspricht eine differenzierte Behandlung in Entgeltfragen auf Grund unterschiedlicher tariflicher Regelungen, zumal wenn sie nicht von denselben Tarifvertragsparteien geschlossen worden sind, nicht dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Wie die historische Tarifentwicklung zeigt, ist die Ungleichbehandlung in Fragen der Kürzung der Jahresleistung dem Tarifgebiet auch nicht fremd. Das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot umfaßt nur eine Besserstellung der benachteiligten Gruppe und zwingt nicht zu einer Benachteiligung der bessergestellten Gruppe.
    • In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts von § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW bedarf es auch nicht nach § 293 ZPO der Einholung einer Tarifauskunft bzw. einer Zurückverweisung des Rechtsstreits zu diesem Zweck. Subjektive Vorstellungen der Tarifvertragsparteien sind nur dann zu berücksichtigen, wenn sie im Tarifwortlaut ihren Niederschlag gefunden haben. Die Normunterworfenen müssen erkennen, welchen Regelungsgehalt die Normen haben, ohne auf Auskünfte ihrer Koalitionen angewiesen zu sein (BAG 23. Februar 1994 – 4 AZR 224/93 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Kirchen Nr. 2). Nach vorstehenden Erwägungen haben mögliche subjektive Vorstellungen der Tarifvertragsparteien in § 20 Abs. 5 MTV Angestellte NRW aber keinen ausreichenden Niederschlag gefunden. Die Tarifvertragsparteien haben es in der Hand, eindeutige Regelungen zu treffen.
    • Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 247, 288, 291 BGB.
  • Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1, § 97 ZPO.
 

Unterschriften

Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, Burger, Großmann

 

Fundstellen

FA 2003, 31

NZA 2003, 288

AuA 2002, 571

EzA-SD 2002, 16

EzA

NJOZ 2003, 2012

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