Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum Verschulden eines beim Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers angestellten Rechtsanwalts, dem wesentliche Teilbereiche des Rechtsstreits zur eigenverantwortlichen und selbständigen Bearbeitung übertragen sind.

 

Normenkette

ZPO §§ 233, 85 Abs. 2; BGB § 276 Abs. 1; ArbGG § 72a Abs. 3

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 25.03.1992; Aktenzeichen 8 Sa 93/91)

ArbG Berlin (Urteil vom 07.10.1991; Aktenzeichen 22 Ca 3673/91)

 

Tenor

1. Der Antrag der Klägerin vom 10. Juli 1992 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten zu tragen.

 

Tatbestand

I. Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, Rechtsanwalt P., hat gegen das ihm am 16. April 1992 zugestellte Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 25. März 1992 (– 8 Sa 93/91 –) mit Schriftsatz vom 18. Mai 1992 Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Der Schriftsatz ist am gleichen Tag, einem Montag, beim Bundesarbeitsgericht per Telefax eingegangen. Mit einem weiteren beim Bundesarbeitsgericht am Freitag, dem 12. Juni 1992, eingegangenen Schriftsatz beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde um einen Monat zu verlängern. Am 18. Juni 1992 wurde dem Rechtsanwalt eine Verfügung des Stellvertretenden Vorsitzenden des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Juni 1992 zugestellt, in der darauf hingewiesen wurde, daß das Gesetz eine Fristverlängerung nicht zulasse. Zuvor hatte die beim Bundesarbeitsgericht beschäftigte Angestellte A. am 15. Juni 1992 den bei Rechtsanwalt P. beschäftigten Rechtsanwalt S. unter Hinweis auf § 72 a Abs. 3 ArbGG fernmündlich davon unterrichtet, daß eine Fristverlängerung nicht in Frage komme. Mit Schriftsatz vom 18. Juni 1992, eingegangen per Telefax an diesem Tag, hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Nichtzulassungsbeschwerde begründet. Durch Beschluß vom 30. Juni 1992 hat der Senat die Nichtzulassungsbeschwerde wegen verspäteter Begründung als unzulässig verworfen. Mit Schriftsatz vom 10. Juli 1992, per Telefax am gleichen Tag beim Bundesarbeitsgericht eingegangen, beantragt die Klägerin, ihr gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewahren. In diesem Schriftsatz hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Nichtzulassungsbeschwerde erneut eingelegt. Außerdem hat er dem Schriftsatz seine bereits zuvor eingereichte Beschwerdebegründung vom 18. Juni 1992 beigefügt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags trägt der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin vor, Rechtsanwalt S. habe den Bürovorsteher L. unmittelbar im Anschluß an das Telefongespräch mit dem Bundesarbeitsgericht über dessen Inhalt unterrichtet und ihn darauf hingewiesen, daß die Akte zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde fristgerecht vorgelegt werden müsse. Üblicherweise würden in seinem Büro Akten zu einer notierten Vorfrist, etwa fünf Tage vor Fristablauf und dann nochmals am Tag des Fristablaufs, dem Sachbearbeiter vorgelegt. Obwohl er über den Ablauf der Frist zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde unterrichtet sei, habe der Bürovorsteher irrtümlich eine Frist von einem Monat beginnend mit dem Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde (18. Mai 1992) auf den 18. Juni 1992 notiert. Sonst notiere der Bürovorsteher Fristen stets richtig, was ständige Stichproben ergäben.

 

Entscheidungsgründe

II. Der Wiedereinsetzungsantrag ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Nach § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine Notfrist einzuhalten. Die Frist zur Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde ist eine Notfrist (§ 72 a Abs. 3 ArbGG). Im vorliegenden Fall wurde diese durch das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin versäumt, was diese sich zurechnen lassen muß (§ 85 Abs. 2 ZPO).

Als Prozeßbevollmächtigter der Klägerin im Sinne des § 85 Abs. 2 ZPO ist auch Rechtsanwalt S. anzusehen, der am 15. Juni 1992 das Telefongespräch mit der beim Bundesarbeitsgericht beschäftigten Angestellten A. geführt hat.

Nach der Rechtsprechung sowohl des Bundesgerichtshofs wie auch des Bundesarbeitsgerichts (vgl. die zahlreichen Nachweise im Beschluß vom 21. Januar 1987 – 4 AZR 86/86BAGE 54, 105 = AP Nr. 12 zu § 233 ZPO 1977) ist als Bevollmächtigter einer Partei auch ein Rechtsanwalt anzusehen, der als Angestellter des Prozeßbevollmächtigten von diesem mit der selbständigen Bearbeitung eines Rechtsstreits betraut worden ist. Die Bevollmächtigteneigenschaft ist nur dann abzulehnen, wenn der angestellte Rechtsanwalt als bloßer Hilfsarbeiter in untergeordneter Funktion tätig geworden ist, wobei nur nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalles entschieden werden kann, ob die eine oder andere Fallgestaltung gegeben ist (BAG, a.a.O.). Dabei kann es sein, daß dem angestellten Rechtsanwalt ein Rechtsstreit insgesamt zur selbständigen Bearbeitung übertragen war (Beschluß vom 20. Mai 1970 – 1 AZR 151/70 – und Urteil vom 27. Juli 1972 – 1 AZR 155/72 – AP Nr. 17 und 18 zu § 232 ZPO). Schuldhaftes Handeln ist jedoch auch dann als der Partei zuzurechnendes Verschulden des Bevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO zu werten, wenn dem angestellten Rechtsanwalt nur wesentliche Teilbereiche des Rechstreits zur eigenverantwortlichen und selbständigen Bearbeitung übertragen waren (BAGE 54, 105 = AP Nr. 12 zu § 233 ZPO 1977). So lag der Fall hier.

Rechtsanwalt S. war nicht nur als juristischer Hilfsarbeiter, sondern als eigenverantwortlich tätiger Sachbearbeiter mit dem Rechtsstreit, auch dem Nichtzulassungsverfahren, befaßt. Zwar sind sämtliche beim Bundesarbeitsgericht eingereichten Schriftsätze der Klägerin von Rechtsanwalt P. unterzeichnet, doch weisen sie alle in ihrem Briefkopf das Diktatzeichen „st” auf. Die in den Vorinstanzen für die Klägerin eingereichten Schriftsätze tragen unterschiedliche Diktatzeichen. Auf einem Teil der Briefköpfe ist „st” vermerkt, im übrigen „pl”. Wenn auch die Schriftsätze mit Ausnahme eines einzigen in der Vorinstanz alle von Rechtsanwalt P. unterzeichnet sind, ist dennoch, wie Rechtsanwalt P. im Schriftsatz vom 9. Februar 1992 einräumt, der Schriftsatz vom 7. Februar 1992, den er selbst unterzeichnet hat, von Rechtsanwalt S. verfaßt. Er trägt auch das Zeichen „st”. Dies deutet darauf hin, daß Rechtsanwalt S. teilweise mit der selbständigen Bearbeitung des vorliegenden Verfahrens betraut war und widerspricht der Annahme, Rechtsanwalt S. sei in der Kanzlei im vorliegenden Verfahren nur für juristische Hilfstätigkeiten eingesetzt gewesen. Rechtsanwalt P. hat im Wiedereinsetzungsgesuch auch nicht geltend gemacht, Rechtsanwalt S. sei nur als Hilfsarbeiter ohne Entscheidungskompetenz tätig gewesen. Die Klägerin und ihr Prozeßbevollmächtigter, Rechtsanwalt P., haben sich auch nicht auf ein von ihnen nicht zu vertretendes Büroversehen infolge schuldhaften Handelns des Rechtsanwalts S. berufen. Vielmehr berufen sie sich auf ein Versehen des Bürovorstehers, der die Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde irrtümlich falsch berechnet und falsch notiert habe.

Rechtsanwalt S. hat fahrlässig und damit schuldhaft gehandelt (§ 233 ZPO i.V.m. § 276 Abs. 1 BGB). Abzustellen ist darauf, ob er die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts berücksichtigt hat (vgl. BAGE 54, 105, 108 = AP, a.a.O.). Dies ist zu verneinen.

Am Tag des Telefongesprächs mit der Angestellten A., also am 15. Juni 1992, war die Beschwerdebegründungsfrist noch nicht verstrichen; sie endete erst mit Ablauf des darauf folgenden Tages. Bei dem Gespräch wurde Rechtsanwalt S. nach eigenem Vortrag der Klägerin auf die Vorschrift des § 72 a Abs. 3 ArbGG hingewiesen. Selbst wenn hierbei weder das Datum des Fristablaufs noch der genaue Wortlaut des Gesetzes Gesprächsinhalt waren, hätte Rechtsanwalt S., um seiner anwaltlichen Sorgfaltspflicht Genüge zu tun, aufgrund dieses Hinweises eine Fristüberprüfung vornehmen müssen. Zwar hat der Anwalt nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. nur BGH Beschluß vom 2. November 1976 – VI ZB 7/76 – VersR 1977, 255, m.w.N.) die Möglichkeit, die Berechnung und Kontrolle gängiger Fristen einer zuverlässigen und sorgfältig überwachten Bürokraft zu überlassen, doch muß er den Fristablauf dann eigenverantwortlich nachprüfen, wenn ihm die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozeßhandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden (st. Rechtsprechung, vgl. statt vieler: BGH Beschluß vom 25. März 1981 – VIII ZB 27/81 – VersR 1981, 551, m.w.N.). Gleiches galt auch hier. Zwar war am 15. Juni 1992 Rechtsanwalt S. nicht die Akte zur Bearbeitung der Beschwerdebegründung vorgelegt worden. Er war jedoch aus besonderem Anlaß, nämlich durch die ihm telefonisch mitgeteilten rechtlichen Bedenken gegen die Fristverlängerung, mit der Sache befaßt worden. Dabei mußte sich ihm aufdrängen, daß die Frist der sofortigen Überprüfung bedurfte. Hätte er diese vorgenommen, hätte er bemerkt, daß die Frist am folgenden Tag ablief. Er durfte nicht darauf vertrauen, daß der Bürovorsteher ihm die Akten nach dem im Büro üblichen Verfahren am nächsten Tag vorlegen würde, sondern hätte, nachdem Zweifel über den Charakter der Frist aufgekommen waren und er telefonisch belehrt worden war, für die Einhaltung der Frist selbst sorgen und dabei die richtige Notierung der Frist veranlassen müssen.

Darauf, daß der Bürovorsteher die Frist falsch notiert hatte, kommt es nicht an, weil dessen Verschulden nach § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei nicht gleichsteht.

III. Die Klägerin hat die Kosten des Wiedereinsetzungsantrags zu tragen (§ 238 Abs. 4 ZPO).

 

Unterschriften

Dr. Peifer, Dr. Armbrüster, Dr. Kremhelmer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1083504

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