Rz. 276

War der Anwalt im vorangegangenen Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren tätig, so ist eine dort verdiente Geschäftsgebühr aus der Hauptsache nicht anzurechnen. Eilsache und Hauptsache betreffen verschiedene Streitgegenstände, sodass das Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren damit gerade kein dem einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz vorausgehendes Verfahren ist. Das einstweilige Anordnungsverfahren ist gegenüber dem Hauptsacheverfahren gem. § 17 Nr. 4 eine eigene selbstständige Angelegenheit. Ein parallel dazu oder bereits zuvor eingeleitetes Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren ist nicht als Vorverfahren zu dem einstweiligen Anordnungsverfahren zu werten, sondern als Vorverfahren zur Hauptsache, sodass im einstweiligen Anordnungsverfahren eine Anrechnung nicht in Betracht kommt. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes stellen sowohl außergerichtlich (siehe § 17 Nr. 1) als auch gerichtlich (siehe § 17 Nr. 4) Hauptsache und Eilverfahren verschiedene Angelegenheiten dar, die gebührenrechtlich gesondert zu vergüten sind. Daher kann in Sozialsachen die Anrechnung einer Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr in der Hauptsache nur dann vorgenommen werden, wenn der Anwalt auch in der Hauptsache bereits im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren tätig war und im einstweiligen Anordnungsverfahren nur, wenn er auch im Hinblick auf eine vorläufige Regelung vor der Verwaltungsbehörde tätig war. Es bleibt daher bei der anrechnungsfreien Verfahrensgebühr der VV 3102.[85] Die überwiegende Rechtsprechung befürwortet dagegen eine Anrechnung.[86] Sie begründet dies mit "Synergieeffekten" und verkennt dabei, dass es darauf nicht ankommt, sondern nur auf die Identität des Streitgegenstands. Die Anrechnung einer Geschäftsgebühr kommt daher nach zutreffender Auffassung nur dann in Betracht, wenn der Anwalt bereits hinsichtlich Anordnung der sofortigen Vollziehung, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Wiederherstellung der sofortigen Vollziehung oder Aufhebung der sofortigen Vollziehung vor der Behörde tätig war. Siehe auch zur vergleichbaren Lage in verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten Rdn 222.

 

Beispiel: Der Anwalt war bereits im Widerspruchsverfahren beauftragt worden und wird nach Erlass des Widerspruchsbescheids mit der Anfechtungsklage und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beauftragt. Über die einstweilige Anordnung wird ohne mündliche Verhandlung entschieden. In der Hauptsache wird verhandelt.

Während in dem Hauptsacheverfahren neben der Terminsgebühr jetzt die Verfahrensgebühr unter Anrechnung der im Widerspruchsverfahren entstandenen Geschäftsgebühr entsteht, erhält er im einstweiligen Anordnungsverfahren die Verfahrensgebühr anrechnungsfrei.

 
I. Widerspruchsverfahren
1. Geschäftsgebühr, VV 2302 Nr. 1   414,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 434,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   82,46 EUR
Gesamt   516,46 EUR
II. Rechtsstreit
1. Verfahrensgebühr, VV 3102   360,00 EUR
2. gem. VV Vorb. 3 Abs. 4 anzurechnen   – 207,00 EUR
3. Terminsgebühr, VV 3106   335,00 EUR
4. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 508,00 EUR  
5. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   96,52 EUR
Gesamt   604,52 EUR
III. Einstweiliges Anordnungsverfahren
1. Verfahrensgebühr, VV 3102   360,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, VV 7002   20,00 EUR
  Zwischensumme 380,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, VV 7008   72,20 EUR
Gesamt   452,20 EUR
[85] So auch schon zum alten Recht (Frage der Ermäßigung nach Nr. 3103 VV): SG Berlin NJW-Spezial 2009, 461; SG Berlin 22.2.2010 – S 165 SF 949/09 E; SG Berlin 20.1.2010 – S 165 SF 657/09 E; SG Schleswig AGS 2010, 238 = ASR 2010, 55; SG Lüneburg 30.3.2009 – S 12 SF 177/08; SG Oldenburg AGS 2006, 506; SG Gelsenkirchen ASR 2010, 86; SG Frankfurt AGS 2006, 551 = ASR 2007, 47; LSG Nordrhein-Westfalen 9.8.2007 – L 20 B 91/07 AS; LSG Thüringen 6.3.2008 – L 6 B 198/07 SF; SG Dresden-Roßlau AGS 2010, 176; SG Hannover ASR 2010, 136.
[86] LSG Thüringen AGS 2017, 508; Hessisches LSG AGS 2017, 508 = ASR 2016, 210 u. 267.

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