§§ 3, 14 RVG; Nr. 3106 VV RVG

Leitsatz

  1. Auch in RVG-Altfällen entsteht für außergerichtliche schriftliche Vergleiche – ohne Mitwirkung des Gerichts – die fiktive Terminsgebühr Nr. 3106 S. 1 Nr. 1 2. Alt. VV.
  2. Da es sich bei der zum 1.1.2021 erfolgten Änderung (KostRÄG 2021) zur Terminsgebühr um eine gesetzgeberische Klarstellung und nicht um eine neue Regelung handelt, gilt diese auch für Altfälle in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung des RVG.

LSG Essen, Beschl. v. 20.7.2022 – L 9 BK 6/22 B

I. Sachverhalt

Im zugrundeliegenden Verfahren klagte die Klägerin gegen die Familienkasse, Klagegegenstand war eine Bewilligung von Kinderzuschlag (§ 6a BKGG). Die Beklagte hatte mit Schriftsatz angeboten, das Verfahren durch Zahlung eines Geldbetrages und Übernahme der hälftigen außergerichtlichen Kosten zu erledigen. Der Bevollmächtigte der Klägerin hatte daraufhin mit Schriftsatz vom 17.9.2018 erklärt, dass grundsätzliches Einverständnis bestünde, und bat das Gericht, einen entsprechenden Vergleich zu protokollieren. Das Gericht erledigte die Angelegenheit hierauf ohne Protokollierung des geschlossenen Vergleichs und teilte dies den Beteiligten mit.

Der der Klägerin im Wege der Prozesskostenhilfe (PKH) beigeordnete Rechtsanwalt als Erinnerungs- und Beschwerdeführer beantragte gegen die Landeskasse neben weiteren unstreitigen Gebühren eine fiktive Terminsgebühr Nr. 3106 VV (hier: Nr. 3106 S. 1 Nr. 1 VV) aufgrund Verfahrensbeendigung durch Vergleich.

Das SG hatte im Festsetzungs- und Erinnerungsverfahren die beantragte fiktive Terminsgebühr nicht zuerkannt mit der Begründung, das Verfahren habe sich nicht durch einen Vergleich unter Mitwirkung des Gerichts nach § 101 Abs. 1 S. 2 SGG oder § 202 S.1 SGG i.V.m. § 278 Abs. 6 ZPO (§ 106 S. 2 VwGO) erledigt.

Eine konstitutive Mitwirkung des Gerichts an dem Vergleichsabschluss sei Voraussetzung für die Entstehung der Terminsgebühr nach Nr. 3106 S. 1 Nr. 1 2. Alt VV.

Das Verfahren wurde vorliegend vielmehr nach überzeugender Begründung durch außergerichtlichen Vergleich mit anschließender übereinstimmender Erledigungserklärung beendet. In einem solchen Fall entstünde neben der Einigungsgebühr nicht auch eine fiktive Terminsgebühr.

Die zulässige Beschwerde des Rechtsanwalts war im Ergebnis begründet. Eine fiktive Terminsgebühr ist dem Senat nach entstanden.

Zuvor war der Vergütungsanspruch des beigeordneten Rechtsanwalts im Einverständnis der Klägerin an eine privatrechtliche Verrechnungsgesellschaft abgetreten worden, welche die Vergütung auch geltend machte. Das Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren wurde jedoch durch den beigeordneten Rechtsanwalt selbst betrieben.

II. Abtretung des Vergütungsanspruchs

Die Konstellation der Zulässigkeit von Erinnerungen und Beschwerden bei abgetretenen Vergütungsansprüchen beschäftigt seit jeher die Sozialgerichtsbarkeit.

Es steht außer Frage, dass bei Abtretung der Vergütungsforderung gegenüber der Landeskasse die Beschwerdebefugnis fehlt (vgl. ausführlich LSG Essen, Beschl. v. 3.3.2016 – L 9 SO 462/14 B, AGS 2016, 351).

Vorliegend sei dem LSG zufolge aber aus dem "Umständen des Festsetzungsverfahrens" der Schluss gerechtfertigt, dass trotz vorheriger – wirksamer – Abtretung der Vergütungsforderung der Bevollmächtigte das nunmehr fremde Recht des Zessionars im eigenen Namen geltend machen kann. Die Ermächtigung zur Prozessführung könne auch konkludent erteilt werden.

Die Begründung vermag nicht zu überzeugen.

Entgegen der vertretenen Auffassung liegen schutzwürdige Interessen der Landeskasse vor: Da der Zessionar bei wirksamer Abtretung berechtigt ist, die Vergütungsforderung von der Staats- bzw. Landeskasse zu fordern, muss diese sicherstellen, dass eine Leistung schuldbefreiend erfolgen kann.

III. Entstehung der fiktiven Terminsgebühr

1. Rechtslage bis zum 31.12.2020 (RVG a.F.)

Bei der zumeist vertretenen Rechtsaufassung der Sozial-/Landessozialgerichte zum RVG a.F. ist eine fiktive Terminsgebühr nur bei einem unter Mitwirkung oder auf Veranlassung des Gerichts geschlossenen Vergleichs (sog. gerichtlichen Vergleich) entstanden. Ein "schriftlicher Vergleich" i.S.d. Nr. 3106 S. 1 Nr. 1 2. Alt. VV sei nur ein unter Mitwirkung oder auf Veranlassung des Gerichts geschlossener Vergleich nach § 202 SGG, § 278 Abs. 6 ZPO bzw. nach § 101 Abs. 1 S. 2 SGG (vgl. LSG Essen, Beschlüsse v. 13.5.2011 – L 19 AS 726/11 B, v. 5.1.2015 – L 19 AS 1350/14 B, v. 11.3.2015 – L 9 AL 277/14 B = NZS 2015, 560, v. 4.1.2016 – L 10 SB 57/15 B, v. 25.8.2016 – L 19 AS 1194/16 B, L 19 AS 1195/16 B, v. 12.10.2018 – L 19 AS 814/18 B, v. 7.3.2019 – L 13 SB 27/19 B und v. 22.7.2019 – L 9 SO 411/18 B, selbst noch v. 6.3.2020 – L 2 AS 1110/19 B; sowie LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse v. 20.7.2015 – L 7/14 AS 64/14 B, v. 15.11.2018 – L 7 AS 73/17 B; SG Frankfurt, Beschl. v. 5.11.2018 – S 7 SF 110/16 E; LSG München, Beschl. v. 22.5.2015 – L 15 SF 115/14 E) und nicht auch ein außergerichtlicher Vergleich ohne konstitutive Mitwirkung des Gerichts.

Die Verfahrensbeendigung erfolgte nach dortiger Ansicht vielmehr durch außergerichtlichen Vergleich mit anschließender übereinstimmender Erledigungs...

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