Das Wichtigste in Kürze:

1. Das Verhalten des Richters vor oder während der HV bzw. Äußerungen in der HV kann die Ablehnung begründen, wenn es besorgen lässt, dass er nicht unvoreingenommen an die Sache herangeht.
2. Die Besorgnis der Befangenheit kann aufgrund allgemeiner Gründe begründet sein.
3. Bei der Verhandlungsführung ist Misstrauen in die Unvoreingenommenheit des Richters gerechtfertigt, wenn sie rechtsfehlerhaft, unangemessen oder sonst unsachlich ist.
4. Insbesondere kann sich auch in Zusammenhang mit dem Zustandekommen einer Verständigung die Besorgnis der Befangenheit ergeben.
5. Die Besorgnis der Befangenheit kann schließlich aus Äußerungen des Richters während/in der HV folgen. Dabei spielen zunehmend Äußerungen in sozialen Medien eine Rolle.
 

Rdn 98

 

Literaturhinweise:

S. die Hinw. bei → Ablehnung eines Richters, Allgemeines, Teil A Rdn 8, und bei → Ablehnungsgründe, Befangenheit, Allgemeines, Teil A Rdn 81.

 

Rdn 99

1. Das Verhalten des Richters vor oder während der HV bzw. Äußerungen in der HV kann die Ablehnung begründen, wenn es besorgen lässt, dass er nicht unvoreingenommen an die Sache herangeht ­(Meyer-Goßner/Schmitt, § 24 Rn 15 m.w.N.). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Richter von der Schuld des Angeklagten bereits endgültig überzeugt zu sein scheint, wobei ggf. eine Gesamtschau vorzunehmen ist (vgl. u.a. BGH StV 2013, 372; NStZ-RR 2013, 168 [für Spannungen im Verhältnis zur StA]; KG NJW 2009, 96; OLG Düsseldorf NJW 2010, 1158 [Ls.]; OLG Schleswig, Beschl. v. 26.5.2010 – 1 Ss 57/10).

 

Rdn 100

Auch in diesem Bereich gibt es eine umfangreiche Kasuistik. Hinzuweisen ist auf die nachfolgenden Rechtsprechungsbeispiele (a. Burhoff, EV, Rn 37 ff.):

 

Rdn 101

2. Die Besorgnis der Befangenheit kann aufgrund allgemeiner Befangenheitsgründe vorliegen. Insoweit gilt:

 

Rdn 102

 

Allgemeine Befangenheitsgründe bejaht

bei mangelnder Aktenkenntnis des Richters bzw., wenn der Richter erklärt, die Kenntnis von durch die StA vorgelegten Beiakten sei unschädlich (LG Hanau NStZ 2004, 13),
wenn (in der HV) erkennbar wird, dass der Richter bereits von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist, so z.B., wenn der Richter nach Unterbrechung zur Beratung über Beweisanträge auf die Beanstandung, die Unterbrechung sei zu kurz, antwortet: "Meinen Sie, wir könnten die Anträge noch schneller ablehnen?" (BGH NStZ 2006, 49, in einem Mordverfahren, in dem fünf Beweisanträge auf Einholung eines SV-Gutachtens gestellt worden waren; ähnlich BGH NStZ-RR 2016, 66 [Ci/Zi]),
wenn der Richter die Schriftsätze des Verteidigers (und Entscheidungen des ihm übergeordneten Gerichts) mit Fragezeichen, Kommentierungen und Unterstreichungen versehen hat (AG Tiergarten StV 1988, 248),
der Richter teilt die dem Angeklagten zur Last gelegten Vorgänge der Presse als schon feststehend mit (BGHSt 4, 264; s. dazu Ziegler StraFo 1995, 70 ff.; zur Neutralität des Richters bei Kontakten zur Presse s. Weiler StraFo 2003, 189), aber nicht allein infolge Kontakten zur Presse zwecks Wiedergutmachung nach einer negativen Presseberichterstattung (vgl. BGH NJW 2006, 3290; zur Medienarbeit der Strafjustiz und sich daraus ggf. ergebenden Folgen für das Verfahren Boehme-Neßler StraFo 2010, 456, insbesondere 459 ff., und Türg NJW 2011, 1040),
zu Pflichtverteidigungsfragen Teil A Rdn 107,
der Richter macht eingereichte ärztliche Atteste einem Dritten zugänglich, indem er z.B. bei der Ordnungsbehörde anregt, den verhandlungsunfähigen Angeklagten auf seine "Führerscheintauglichkeit" untersuchen zu lassen (AG Güstrow StraFo 2007, 25),
der Richter bespricht das Verfahren vorab mit Dritten (BGH NStZ-RR 2004, 34 [Be; für Besprechen einer Strafsache in einer Arbeitsgemeinschaft für Referendare während laufender HV]; nach BGH, a.a.O., handelt es sich um ein zumindest bedenkliches Verhalten),
bei Fehlern in Zusammenhang mit der Einholung eines SV-Gutachtens zur Begutachtung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten/Angeklagten (BGHSt 48, 4), wie z.B. nicht vertretbare Bewertung eines Vorgutachtens und/oder keine Anhörung des Beschuldigten bei Einholung eines weiteren Gutachtens kurz vor der HV,
ggf., wenn das Gericht dem Angeklagten nicht genügend Zeit einräumt, um ein SV-Gutachten durch einen Privatsachverständigen überprüfen zu lassen (OLG Hamm NStZ-RR 2016, 319 für die Verweigerung der Überprüfung eines gerichtlichen SV-Gutachtens zur Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe),
ggf. in Zusammenhang mit dem Zustandekommen einer Verständigung (§ 257c), dazu Teil A Rdn 110,
ggf. aufgrund von Äußerungen, die der Richter in wissenschaftlichen Fachpublikationen/Festschrift gemacht hat, wobei es nicht darauf ankommt, ob er die Folge seiner Äußerungen hätte erkennen müssen und ob ihm der Vorwurf einer Verletzung seiner Dienstpflichten zu machen ist (BVerfG NJW 1996, 3333; zur Befangenheit infolge einer veröffentlichten wissenschaftlichen Meinung auch BVerfG NJW 1999, 413; dazu auch BGH, Beschl. v. 4.2.2014 – 3 StR 243/13 und BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – I...

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