Rz. 445

Überschreitet der Vorsitzende seine Kompetenz, so ist die von ihm abgegebene Erklärung für den Betriebsrat nicht bindend. Der Betriebsrat kann eine solche Erklärung gem. § 177 BGB mit Rückwirkung (§ 184 BGB) nachträglich genehmigen; diese zeitliche Rückerstreckung der Genehmigung ist allerdings dann ausgeschlossen, wenn die Beschlussfassung des Betriebsrates erst nach dem für die Beurteilung eines Sachverhaltes maßgeblichen Zeitpunkt erfolgt. Diese Einschränkung betrifft insb. rechtsgeschäftliche Vereinbarungen, durch die dem Arbeitgeber eine Kostentragungspflicht auferlegt wird. Insofern wird die Rückwirkung durch die nach § 40 BetrVG gebotene Erforderlichkeitsprüfung begrenzt. Dies ist etwa bei der nachträglichen Beschlussfassung über eine Schulungsteilnahme nach § 37 Abs. 6 BetrVG der Fall (BAG v. 8.3.2000 – 7 ABR 11/98, juris). Andererseits ist die Beschlussfassung über die Bestellung eines Einigungsstellenbeisitzers nicht fristgebunden und kann noch nach Abschluss des Einigungsstellenverfahrens nachgeholt werden (BAG v. 10.10.2007 – 7 ABR 51/06, juris). Beruht die Einleitung eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens nicht auf einem ordnungsgemäßen Beschluss des Betriebsrats hierzu, kann auch ein solcher Beschluss nachgeholt werden, ggf. auch in zweiter Instanz. Dies gilt nur dann nicht, wenn mit einer solchen Nachholung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung die Grundlage entzogen würde, wenn das Arbeitsgericht seine Entscheidung gerade auf das Fehlen der ordnungsgemäßen Beschlussfassung gestützt hatte (BAG v. 4.11.2015 – 7 ABR 61/13, juris; LAG Nürnberg v. 13.6.2017 – 7 TaBV 80/16, juris).

 

Rz. 446

 

Hinweis

Ergeben sich Zweifel an der Wirksamkeit eines Betriebsratsbeschlusses etwa zur Einleitung eines Gerichtsverfahrens, in dem der Arbeitgeber zur Unterlassung oder Vornahme einer Handlung angehalten werden soll, sollte der Betriebsrat eine erneute Beschlussfassung bis vor der letzten mündlichen Verhandlung nachholen, in der besonders sorgfältig auf Ladung und Tagesordnung aller Betriebsratsmitglieder und Ersatzmitglieder sowie auf die Protokollierung der gefassten Beschlüsse (genaues Begehren des Betriebsrats, Einleitung eines Gerichtsverfahrens, Beauftragung eines Rechtsanwalts) gelegt wird.

 

Rz. 447

Bis zu einer solchen oder bei Ablehnung einer solchen Genehmigung fehlt es an der wirksamen Willensbildung, am entsprechenden Willen des Betriebsrates. Der Betriebsrat muss sich mangels Beschlussfassung eine Erklärung des Betriebsratsvorsitzenden auch nicht zurechnen lassen, wenn er diese gekannt hat – er bildet seinen Willen ja allein durch Beschluss (BAG v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, juris, unter Aufhebung von LAG Düsseldorf v. 15.4.2021 – 11 Sa 490/20, juris).

 

Rz. 448

Ob zugunsten des Arbeitgebers bei vom Gremium nicht gedeckten Erklärungen des Betriebsratsvorsitzenden der Grundsatz des Vertrauensschutzes eingreifen kann, ist fraglich: Handelt er im Vertrauen darauf, dass der Betriebsratsvorsitzende sich korrekt verhalten hat – dass dessen Erklärungen also vom Betriebsratsgremium gedeckt sind –, kann natürlich kein grober Verstoß gegen seine Pflichten gegeben sein. Kein Vertrauen kann der Arbeitgeber haben, wenn er aufgrund der Umstände – sofortige Zustimmung des alleine anwesenden Betriebsratsvorsitzenden bei der Anhörung für eine Kündigung – weiß, dass eine Beschlussfassung des Betriebsrates nicht vorgelegen haben kann. Ob für das Vorhandensein und die Ordnungsmäßigkeit einer entsprechenden Beschlussfassung des Betriebsrats bei entsprechendem Verhalten des Vorsitzenden eine widerlegbare Vermutung spricht (so BAG v. 19.3.2003 – 7 ABR 15/02, juris; BAG v. 24.2.2000 – 8 AZR 180/09, juris; BAG v. 17.2.1981 – 1 AZR 290/78, juris), wird in neuerer Zeit bezweifelt und offengelassen (so BAG v. 19.1.2005 – 7 ABR 24/04, juris; BAG v. 9.12.2014 – 1 ABR 19/13, juris). Das BAG hat (Urt. v. 8.2.2022 – 1 AZR 233/21, juris) das Bestehen einer Anscheinsvollmacht abgelehnt; allerdings habe der Betriebsrat bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung die Nebenpflicht, dem Arbeitgeber auf dessen zeitnah geltend gemachtes Verlangen eine den Maßgaben des § 34 Abs. 2 S. 1 BetrVG entsprechende Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen, aus dem sich die Beschlussfassung des Gremiums ergebe. Man wird diese Auskunftspflicht auf alle für die Wirksamkeit des Beschlusses relevanten Umstände (welche Ersatzmitglieder sind geladen, Rechtzeitigkeit der Ladung, ggf. Fristsetzung für Widerspruch gegen Videoteilnahme usw.) erstrecken müssen.

 

Rz. 449

 

Hinweis

Die Annahme einer Vermutung erscheint in dem Sinn zwingend, als der Arbeitgeber ohne Anhaltspunkte nicht prüfen muss, ob die Erklärung des Betriebsratsvorsitzenden auf einer ordnungsgemäßen Willensbildung des Betriebsrats beruht. Die ArbGe können hiervon ebenfalls ausgehen, wenn dies von keiner Partei/keinem Beteiligten angezweifelt wird. Ansonsten widerspricht es dem Untersuchungsgrundsatz im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren, entstandene Rügen oder Zweifel nic...

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