Rz. 179

Nach § 24 Abs. 3 WO kann der Wahlvorstand für Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt sind, die obligatorische, also zwingende schriftliche Stimmabgabe (Briefwahl) beschließen. Tut er dies, sind die in diesem Betriebsteil beschäftigten Mitarbeiter nicht zur persönlichen Stimmabgabe im Wahllokal berechtigt (fraglich ist, wenn es nicht mehrere Wahlräume gibt, ob sie bei Anwesenheit im Betrieb mit dem Wahlraum nicht dennoch ihre Stimme persönlich abgeben können, s. Rdn 262). Sinn der Vorschrift ist, dass Mitarbeitern das Wählen nicht deswegen schwergemacht werden soll, weil sie einen weiten Anfahrtsweg zum Wahllokal hätten. Andererseits soll der Wahlvorstand nicht gezwungen sein, in jeder etwas weiter entfernten Betriebsstätte einen eigenen Wahlraum einzurichten, was – man denke nur an die vielen oder langdauernden Transporte der Urnen – ebenfalls mit erheblichen Unsicherheiten auch für die Gewährleistung eines fairen Wahlergebnisses verbunden wäre.

 

Rz. 180

Es ist misslich, dass der Gesetzgeber als Voraussetzung für die Festlegung der zwingenden Briefwahl in solchen Einheiten die Begriffe "räumlich weit" und "Hauptbetrieb" verwendet hat. Wären sie in derselben Weise zu verstehen wie in § 4 BetrVG, käme die Vorschrift – dann wären in diesen Einheiten eigene Betriebsräte zu wählen – so gut wie nie (außer bei anderweitiger Zuordnung oder Abstimmung über die Mitwahl im Hauptbetrieb) zum Tragen. Als "Hauptbetrieb" im Sinne dieser Vorschrift ist daher eine große Teileinheit des Betriebes, für den der Betriebsrat gewählt werden soll, zu verstehen. "Räumlich weit" sind daher alle Einheiten, bei denen nicht erwartet werden kann, dass die Mitarbeiter den Weg ins Wahllokal der großen Einheiten auf sich nehmen werden. Man wird daher schon eine Entfernung von drei oder vier Kilometern genügen lassen (str.). Nicht zulässig ist es allerdings, für jede kleine Betriebsstätte obligatorische Briefwahl anzuordnen, obwohl solche Betriebsstätten unmittelbar an das Werksgelände anschließend gelegen sind, auch wenn das Werksgelände mehrere Hektar groß ist (BAG v. 16.3.2022 – 7 ABR 29/20, juris; ähnlich LAG Hamm v. 16.11.2007 – 13 TaBV 109/06, juris; ebenso LAG Hamm v. 5.8.2011 – 10 TaBV 13/11, juris mit dem Abstellen auf Zumutbarkeit der persönlichen Stimmabgabe unter Berücksichtigung der bestehenden und ggf. vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Verkehrsmittel).).

 

Rz. 181

 

Hinweis

Ob es zulässig ist, mithilfe dieser Vorschrift bei der Wahl in einem Betrieb, der im Wesentlichen aus sehr kleinen Einzelhandelsfilialen besteht, für die überwiegende Zahl oder sogar für alle Arbeitnehmer die obligatorische Stimmabgabe zu beschließen, ist offen (ausdrücklich jetzt für die Zulässigkeit dieser Möglichkeit in entsprechenden Konstellationen LAG Nürnberg v. 7.3.2022 – 1 TaBV 23/21, juris). Vieles spricht dafür – was würde es bringen, in einzelnen Filialen "fliegende Wahlvorstände" einzurichten, die dann wegen der unterschiedlichen Arbeitszeiten der dortigen Filialbesetzung jeweils eigene Wahllokale für eine Vielzahl von Filialen aufmachen und u.U. tagelang durch die Bundesrepublik reisen müssten? Eine solche Handhabung wäre mindestens genauso fehleranfällig wie die obligatorische Briefwahl. Zudem wären Ungleichbehandlungen auch dann nicht zu vermeiden. In den Filialen mit obligatorischer Briefwahl erhielten alle Mitarbeiter die Briefwahlunterlagen, in denjenigen, in denen der Wahlvorstand eine halbe Stunde ein Wahllokal eröffnet hätte, müssten an diesem Tag durch Urlaub oder Arbeitsunfähigkeit verhinderte Wahlberechtigte die Unterlagen beantragen. Es wäre gekünstelt, würde man in solchen Fällen in wenigen Filialen mit ebenfalls wenig dort beschäftigten Arbeitnehmern Wahlurnen aufzustellen, nur um dem Ausnahmecharakter des § 24 Abs. 3 WO Genüge zu tun (so im Fall des LAG Nürnberg v. 27.11.2007 – 6 TaBV 46/07, juris: alle Filialen schriftlich mit Ausnahme der Beschäftigungsfiliale der Vorsitzenden des Wahlvorstandes mit der Folge, dass nur zwei Arbeitnehmerinnen persönlich wählen konnten, die übrigen über 50 Arbeitnehmer aber zwingend schriftlich; das LAG konnte die Frage dahinstehen lassen, da die Wahl aus anderen Gründen für unwirksam zu erklären war). Es spricht vieles dafür, eine solche Vorgehensweise nicht zu beanstanden, wenn der Betriebsratsbetrieb entsprechend einem Tarifvertrag aus einer Vielzahl kleiner Filialen ohne Hauptbetrieb besteht (LAG Nürnberg v. 20.9.2011 – 6 TaBV 9/11, juris: 850 Filialen; anders BAG v. 27.1.1993 – 7 ABR 37/92, juris, für die Aufsichtsratswahl).

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