Rz. 21

Im zweiten Schritt des Prüfungsschemas (siehe Rdn 5) ist zu prüfen, ob für den Schädiger ein Fall der Haftungsprivilegierung (§ 104 ff. SGB VII) vorliegt. Wenn dies zutrifft, führt dies dazu, dass der Geschädigte seinen kompletten Anspruch verliert. Es handelt sich um ein System der Haftungsersetzung. Als Begründung wird angeführt, dass der Betriebsfrieden gesichert werden soll. Wenn ein Kollege den anderen schädigt und dieser dann Ansprüche geltend machen kann, schränkt dies den Betriebsfrieden erheblich ein. Aus diesen Gründen wird die Haftung des Schädigers ersetzt durch die Haftung der gesetzlichen Unfallversicherung. Wie bereits oben erwähnt, ist es allein eine zivilrechtliche Frage, ob für den Schädiger ein Tatbestand der Haftungsprivilegierung gemäß §§ 104 ff. SGB VII erfüllt ist oder nicht.

 

Rz. 22

Folge der Haftungsprivilegierung ist es, dass der Geschädigte seine sämtlichen Ansprüche gegen den Schädiger verliert. Die Ansprüche des Geschädigten gegen den Schädiger werden durch die Ansprüche des Geschädigten gegen die gesetzliche Unfallversicherung ersetzt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Haftungsersetzung. Das bedeutet, dass die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Schädiger gesetzlich gesperrt ist. Der Geschädigte ist durch die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung materiell allerdings gut abgesichert. Das Einzige, was er nicht geltend machen kann, ist ein Schmerzensgeld. Diese Regelungen sind verfassungsgemäß. Sowohl die ursprüngliche Regelung in der RVO (§§ 636 Abs. 1 ff. RVO) als auch die Regelungen der §§ 104 ff. SGB VII lagen dem BVerfG zur Prüfung vor. Das BVerfG hat die jeweiligen Regelungen für verfassungsgemäß erklärt (BVerfG (1. Senat) v. 7.11.1972 – 1 BvL 4/71 u.a., NJW 1973, 502; BVerfG (1. Senat, 3. Kammer), Nichtannahmebeschluss v. 27.2.2009 – 1 BvR 3505/08, NZA 2009, 509). Das bedeutet allerdings auch, dass es für den Geschädigten von Nachteil sein kann, wenn sich der Unfall für den Schädiger tatsächlich als Arbeitsunfall darstellt.

I. Versicherte desselben Betriebes

 

Rz. 23

Erster und wichtigster Fall des Arbeitsunfalls ist der unproblematische Fall des § 105 SGB VII. Es geht hierbei um Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall eines Versicherten desselben Betriebes verursachen (§ 105 Abs. 1 SGB VII). Dies ist sicherlich der häufigste Fall des Arbeitsunfalls. Wichtigste Voraussetzung hierbei ist, dass es sich bei der Tätigkeit, durch die der Schaden hervorgerufen wird, um eine betriebliche Tätigkeit handelt. Nicht um eine betriebliche Tätigkeit handelt es sich z.B. dann, wenn ein Auszubildender einen anderen dadurch verletzt, dass er mit Gegenständen nach diesem wirft. Dies hat mit der Ausbildung als solcher nichts zu tun, sondern stellt eine betriebsfremde Tätigkeit dar (Hess. LAG, Urt. v. 20.8.2013 – 13 Sa 269/13, UV-Recht aktuell 2013, 1188, Revision durch das BAG mit Beschl. v. 19.3.2015 zurückgewiesen). Im konkreten Fall hatte ein Auszubildender mit einem Wurfgewicht nach einem Kollegen geworfen. Für diesen Kollegen handelt es sich um einen Arbeitsunfall, jedoch lag keine betriebliche Tätigkeit beim Schädiger vor.

 

Rz. 24

Schädigt ein versicherter Betriebsangehöriger einen nicht versicherten Unternehmer, gilt für ihn § 105 Abs. 1 S. 2 SGB VII. Er ist haftungsprivilegiert. In diesen Fällen hat der nicht versicherte Unternehmer ausnahmsweise den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Anders als sonst wird der Arbeitsunfall des Unternehmers über die zivilrechtliche Frage der Haftungsprivilegierung beantwortet.

 

Rz. 25

In der sog. Praktikantenentscheidung hat der BGH entschieden, dass die Sozialgerichte bindend feststellen, welchem Unfallbetrieb der Geschädigte zugeordnet ist. Nach früherer Rechtsprechung konnte dann trotzdem die betriebliche Tätigkeit des Schädigers diesem Betrieb zugerechnet werden mit der Folge, dass die Ansprüche verloren gingen. In der genannten Entscheidung vom 19.5.2009 hat der BGH seine Rechtsprechung geändert. Danach sind die Zivilgerichte daran gehindert, die Tätigkeit zuzurechnen mit der Folge, dass eine Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII nicht mehr erfolgt (VersR 2009, 1074).

 

Praxistipp

In den Fällen, in denen eine Person in einem anderen Betrieb verletzt wird, greift im Regelfall § 106 Abs. 3 SGB VII mit der Folge, dass auch hier der Schädiger haftungsprivilegiert ist.

 

Hinweis

In Fällen eines Leiharbeiters hat der BGH entschieden, dass dieser in den Betrieb des Entleihers integriert ist. Daher gilt für Leiharbeiter unmittelbar § 105 SGB VII (BGH zfs 2015, 321).

 

Rz. 26

Ein wichtiger Fall der Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII ist der sog. Wie-Beschäftigte. Dieser Fall liegt dann vor, wenn eine Person in einen Betrieb integriert ist und dort wie ein Beschäftigter behandelt wird. Wichtigstes Kriterium dabei ist, dass er dem Weisungsrecht des Unternehmers unterliegt.

 

Rz. 27

Weiterer häufiger Fall für § 105 SGB VII sind Schulunfälle. Hier hat der BGH mehrfach entschieden, dass auch das Warten an der Bushaltestel...

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