Rz. 11

Eine Massenentlassung liegt vor, wenn in einem Betrieb mit einer bestimmten Belegschaftsgröße eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird. Indem der Massenentlassungsschutz an die Betriebsgröße gebunden wird, soll gewährleistet werden, dass den betroffenen Arbeitgebern nicht eine im Verhältnis zu der Größe ihres Betriebs übermäßige Belastung auferlegt wird.[20] Dabei knüpft der Massenentlassungsschutz an die Betriebsgröße an, nicht an die Größe des Unternehmens. Die Konzeption des Massenentlassungsschutzes gemäß § 17 Abs. 1 KSchG weicht damit von derjenigen des § 111 BetrVG ab, der die Informationspflichten bei Betriebsänderungen (mittlerweile) von der Größe des Unternehmens abhängig macht; dies ist aus unionsrechtlicher Sicht aber zwingend, da im Hinblick auf die (betriebsbezogenen) Schwellenwerte der Richtlinie das alleinige Abstellen auf das Unternehmen für die Arbeitnehmer ungünstiger sein könnte, was mit den Vorgaben der Richtlinie nicht vereinbar wäre.[21]

1. Unionsrechtlicher Betriebsbegriff

 

Rz. 12

Der Begriff des Betriebes ist nach der Rechtsprechung des BAG zunächst betriebsverfassungsrechtlich zu bestimmen, mithin ist auf den Betrieb i.S.v. § 1 BetrVG abzustellen.[22] Betrieb in diesem Sinne ist die organisatorische Einheit, innerhalb derer ein ­Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe von technischen und immateriellen ­Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt.[23] Ein qualifizierter Betriebsteil gilt gemäß § 4 BetrVG als selbstständiger Betrieb, wenn in ihm mindestens fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind und der Betriebsteil von dem Hauptbetrieb räumlich weit entfernt oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig ist. Die Qualifikation eines Betriebsteils als eigenständiger Betrieb wird durch die Teilnahme der Arbeitnehmer an den Wahlen des Hauptbetriebes nicht beeinflusst.[24]

 

Rz. 13

Allerdings hat der EuGH wiederholt darauf hingewiesen, dass der Betriebsbegriff der Richtlinie nicht anhand der nationalen Rechtsordnungen, sondern autonom unionsrechtlich zu definieren ist. Ein Betrieb im unionsrechtlichen Sinne ist demnach eine "unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. Ob die fragliche Einheit eine Leitung hat, die selbstständig Massenentlassungen vornehmen kann, ist nicht entscheidend."[25]

 

Rz. 14

Damit geht der unionsrechtliche Betriebsbegriff über den der §§ 1, 4 BetrVG hinaus, was bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung des § 17 KSchG zu berücksichtigen ist.[26] Eine organisatorische Einheit muss weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen, um als Betrieb qualifiziert zu werden.[27] Insbesondere kann demnach auch ein einfacher Betriebsteil, der keine hinreichend verselbstständigte Leitungsstruktur besitzt und deshalb nicht als qualifizierter Betriebsteil i.S.v. § 4 BetrVG angesehen werden kann, wie dies bei einer Filialstruktur häufig der Fall ist, als Betrieb i.S.v. § 17 Abs. 1 BetrVG anzusehen sein. Ausreichend ist ein Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit und eine Leitungsperson, die arbeitstechnische Weisungsrechte ausübt.[28]

[26] APS/Moll, § 17 KSchG Rn 8; Schaub/Linck, § 142 Rn 3; Freckmann/Hendricks, BB 2018 1205.
[28] Salamon, NZA 2015, 789; Kleinebrink/Commadeur, NZA 2015, 853.

2. Gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen

 

Rz. 15

Der gemeinsame Betrieb mehrerer Unternehmen i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG ist bislang auch als Betrieb i.S.d. § 17 KSchG angesehen worden. Für die Beurteilung, ob eine Massenentlassung vorliegt, kam es nach bisheriger Rechtsprechung auf die Zahl der insgesamt von allen beteiligten Arbeitgebern zu entlassenden Arbeitnehmer im Verhältnis zu der Zahl der im Gemeinschaftsbetrieb insgesamt in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer an. Sofern bei getrennter, unternehmensbezogener Betrachtung die Schwellenwerte nicht erreicht und deshalb eine Massenentlassungsanzeige unterblieben ist, wurde dies als Verkennung des Betriebsbegriffs mit der Folge der Unwirksamkeit der Kündigung angesehen.[29] Ob im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zum Betriebsbegriff an dieser Sichtw...

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