Rz. 95

Nach einer Vorprüfung und der Feststellung der einschlägigen Rechtsquelle(n) (Checklisten siehe Rdn 16, 29), ist die einschlägige Kollisionsnorm auszuwählen (sog. Qualifikation) und anzuwenden. Vorrangig gelten die europäischen Kollisionsnormen (Rom I-, II-, III-VO, EuGüVO, EuPartVO und EuErbVO).[206]

[206] Vgl. die systematische Zusammenstellung bei Jayme/Hausmann, IPR-Texte.

1. Überblick über den Bestand an autonomen Kollisionsnormen des deutschen Rechts

 

Rz. 96

Die geschriebenen Kollisionsnormen setzen sich aus den allgemeinen Vorschriften über die Anwendung des Kollisionsrechts (Art. 36 EGBGB in Abschn. 1; Allg. Teil) und den Verweisungsnormen in den Art. 748 EGBGB (Bes. Teil) zusammen. Das Familien- und das Erbkollisionsrecht (Abschnitte 3 u. 4) sind dem Schuld- und Sachenrecht (Abschnitte 5 u. 6) vorangestellt. Das vertragliche Schuldrecht (Art. 27–37 EGBGB a.F.) ist durch die Rom I-VO mit Stichtag zum 17.12.2009 ersetzt worden und gilt daher nur noch für Altfälle. Das außervertragliche Schuldrecht bleibt bestehen, wird aber von der Rom II-VO in deren Anwendungsbereich mit Stichtag zum 11.1.2009 verdrängt. Es gilt weiter in den Bereichen, die die Rom II-VO nicht erfasst (insb. Persönlichkeitsrechtsverletzungen) und für Altfälle. Die Rom III-VO gilt für die Ehescheidung seit dem 21.6.2012, das Haager Protokoll gilt über die EuUnthVO seit 18.6.2011 und die EuErbVO ab dem 17.8.2015 (siehe Rdn 19). Die EuGüVO und die EuPartVO ersetzen den Art. 15 EGBGB a.F. seit dem 29.1.2019 (siehe Rdn 64).

Daneben bestehen richterrechtlich entwickelte ungeschriebene Kollisionsnormen für die:

Rechts- und Handlungsfähigkeit juristischer Personen und Gesellschaften,[207]
Inhaberschaft, Übertragbarkeit, dingliche Wirkung und den Bestand von Rechten des geistigen Eigentums,[208]
Vollmacht (siehe Rdn 126),
Inhaber- und Orderpapiere (außer Wechsel- und Scheck),
Verlöbnis und Verlöbnisbruch.

Sondergesetzliche IPR-Vorschriften außerhalb des EGBGB einschließlich der Rom-VOen sind:

Allgemeiner Teil: § 23 SignaturG (Gleichstellung qualifizierter elektronischer Signaturen aus anderen EU-/EWR-Staaten und aus Drittstaaten).
Sachenrecht: §§ 4 und 8 KulturgüterrückgabeG (Rückgabe gestohlener Kulturgüter) und § 20 KulturgutabwanderungsG (freies Geleit für entliehene Kulturgüter).[209]
Transportrecht: §§ 449 Abs. 3, 451h Abs. 3, 452d Abs. 3 und 466 Abs. 4 HGB (Verbraucherschutz für unimodale u. multimodale Transporte, die fremdem Recht unterliegen[210]). § 6 EGHGB, § 662 HGB (zwingende deutsche Vorschriften über Konnossemente).
Wertpapierrecht: Art. 9198 WechselG[211] und Art. 6066 ScheckG; § 17a DepotG.
Börsenrecht: § 44 Abs. 3 BörsG (Börsenprospekthaftung).
Wettbewerbsrecht: § 130 Abs. 2 GWB (Wettbewerbsbeschränkung mit Wirkung im Inland und Ausfuhrkartelle).
E-Commerce: § 3 TMG (Herkunftslandrecht bei grenzüberschreitenden Geschäften[212]).
Arbeitsrecht: § 7 AEntG (zwingende Arbeitsbedingungen bei Arbeitnehmerentsendung).
Datenschutzrecht: Art. 3 DS-GVO (siehe Rdn 19).
Insolvenzrecht: Art. 4 EuInsVO; im Drittstaatenverhältnis: §§ 335 ff. InsO (jeweils: Recht des Eröffnungsstaates).
Urheberrecht: § 32b UrhG (international zwingende Vergütungsregeln).
Patentrecht: Art. 7 EUPatVO (Ermittlung des die einheitliche Wirkung als Vermögengegenstand bestimmenden nationalen Rechts eines teilnehmenden Mitgliedstaats) sowie Art. 5 Abs. 3 EUPatVO (siehe Rdn 19).
Die Rom I-VO beinhaltet besondere Kollisionsnormen für Beförderungsverträge (Art. 5), für Verbraucherverträge (Art. 6), für Versicherungsverträge (Art. 7) und für Arbeitsverträge (Art. 8).
Die Rom II-VO beinhaltet besondere Kollisionsnormen für die Produkthaftung (Art. 5), für Umweltschäden (Art. 7), für Wettbewerbsrecht (Art. 6), für Urheberrechtsverletzungen (Art. 8), für Arbeitskampfmaßnahmen (Art. 9) und das Verschulden bei Vertragsverhandlungen (Art. 12).
Die Rom III-VO beinhaltet Kollisionsnormen neben der Scheidung auch für die Trennung von Tisch und Bett (Art. 8).
[207] Sitztheorie; hierzu und zu der (gemeinschaftsrechtlichen) Gründungstheorie Mankowski, Bd. 2, § 7 Rn 1 f.
[208] Schutzlandprinzip des autonomen deutschen Kollisionsrechts außerhalb von Art. 8 Rom II-VO, MüKo-BGB/Drexl, Art. 8 Rom II-VO Rn 185 u. 195.
[209] Abgedr. einschließlich der zugrunde liegenden Richtlinie EWG/93/7 bei Jayme/Hausmann, Nr. 113 u. 115.
[210] R. Wagner, TranspR 2008, 221 (zur Rom I-VO).
[211] Vgl. Wechsel- und Scheckkollisionsrecht sind weitestgehend parallel geregelt. Vgl. zu den Art. 9198 WechselG: NomosK-BGB/Lüttringhaus, Anh. zu Art. 46d EGBGB Rn 29 f.
[212] Nach BGH NJW 2012, 2197 handelt es sich bei § 3 TMG nicht um eine Kollisionsnorm, sondern um ein sachrechtliches Beschränkungsverbot; das war auch noch nach der Entscheidung des EuGH v. 25.10.2011 – C-509/09 u. C-161/10 – eDate Advertising umstritten.

2. Allgemeine Regeln über die Anwendung des Kollisionsrechts

a) Bestimmung der einschlägigen Kollisionsnorm

aa) Auswahl (Qualifikation)

 

Rz. 97

Die einschlägige Kollisionsnorm ist zu bestimmen (sog. primäre Qualifikation). Das kann in Zweifelsfällen erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Durch Auslegung ist zu entscheiden, ob etwa eine bei der Eheschließung versprochene...

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