Rz. 517

Die Lehre vom Betriebsrisiko findet Anwendung, wenn der Arbeitnehmer zur Arbeit fähig und bereit ist, der Arbeitgeber ihn aber aus Gründen, die in seinem Betrieb liegen, nicht beschäftigen kann und weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer schuldhaft die Ursache für das Unterbleiben der Arbeitsleistung gesetzt haben (vgl. BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 = NJW 1983, 2159; BAG v. 28.9.1972 – 2 AZR 506/71, DB 1973, 187 = BB 1973, 196).

 

Rz. 518

Das Betriebsrisiko stellt nach der Rspr. des BAG einen Teil des wirtschaftlichen Unternehmerrisikos dar, das der Arbeitgeber nach der Wirtschafts- und Sozialverfassung und nach den Grundsätzen der Vertragstreue allein zu tragen hat. Wie der Unternehmer den Gewinn des Unternehmens erhält, muss er auch dessen Verluste tragen (BAG v. 8.2.1957 – 1 AZR 338/55, DB 1957, 718). Da der Arbeitgeber den Betrieb leitet und organisiert und Inhaber des Direktionsrechtes ist, hat er im Allgemeinen das Betriebsrisiko zu tragen. Er bleibt zur Lohnfortzahlung verpflichtet, auch wenn die Unmöglichkeit keine betriebstechnischen Ursachen hat, sondern als höhere Gewalt von außen auf das Unternehmen einwirkt (BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 = NJW 1983, 2159). Kein Fall des Betriebsrisikos liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringen kann, weil ein Kunde des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer gegenüber ein Hausverbot erteilt hat, da dies nicht auf betriebstechnischen Umständen beruht (BAG v. 28.9.2016 – 5 AZR 224/16, juris). Ebenso scheidet ein Vergütungsanspruch gemäß § 615 S. 3 BGB aus, wenn dem Arbeitnehmer, einem Wachmann, vom Kunden des Arbeitgebers (den US-Streitkräften) die persönlich erteilte Einsatzgenehmigung entzogen wird, da der Genehmigungsentzug nicht zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers gehört (BAG v. 23.9.2015 – 5 AZR 146/14, juris).

 

Rz. 519

Fraglich ist, ob die flächendeckende behördliche Schließung von Unternehmen infolge der Corona-Pandemie (Shut down) die Zuweisung des Betriebsrisikos an den Arbeitgeber rechtfertigt. Dies wird teilweise verneint. Sofern Arbeitgebern zu Zwecken des Gesundheitsschutzes behördlich die Schließung des Betriebs aufgegeben werde, trügen diese nur dann das Betriebsrisiko, sofern dies durch die besondere Eigenart des Betriebs bedingt sei. Dies sei etwa bei dem unter Rdn 515 aufgeführten Beispiel der Einstellung des Geschäftsbetriebs aufgrund einer bankaufsichtsrechtlichen Maßnahme der Fall. Die pandemiebedingte behördliche Schließung sei aber nicht in der besonderen Eigenart der Betriebe angelegt, vielmehr erfolge die Schließung wegen des allgemeinen Risikos einer Epidemie (Bonanni, ArbRB 2020, 110; Sagan/Brockfeld, NJW 2020, 1112; Schaub/Linck, ArbRHB, § 101 Rn 11; Greiner, NZA 2022, 665). Daher gehe es bei der Pandemie eher um eine Naturkatastrophe (z.B. wie bei einem Erdbeben, Überschwemmungen oder bei Bränden) und somit um höhere Gewalt. Gegen diesen Ansatz ist eingewandt worden, dass die Betriebsschließung aufgrund der Pandemie nicht mit der Schließung der Betriebe aufgrund einer Naturkatastrophe vergleichbar sei. Durch eine Naturkatastrophe werde der Betrieb unmittelbar beeinträchtigt, wohingegen die Schließung bei einer Pandemie aufgrund einer behördlichen Verfügung und nur mittelbar aufgrund des Virus erfolge (ErfK/Preis, § 615 BGB Rn 132f.). Auch sei es nicht zutreffend, dass die behördliche Schließung nicht in der Eigenart der Betriebe angelegt ist. Der Zweck der Schließungsanordnungen bestehe darin, soziale Kontakte zu vermeiden, um auf diese Weise die Verbreitung des Virus einzudämmen und die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Betroffen von den Betriebsschließungen seien daher auch nicht sämtliche Betriebe, sondern nur Betriebe, die auf Publikumsverkehr ausgelegt sind. Mithin sei das Infektionsrisiko bei Betrieben mit Publikumsverkehr ein dem Betrieb immanentes Risiko, sodass der Arbeitgeber auch das Risiko der Schließung des Betriebs zu tragen habe. Die Betriebsschließung sei durch das auf Kundenverkehr ausgerichtete Geschäftsmodell des Unternehmens bedingt (Preis/Mazurek/Schmid, NZA 2020, 1137). Auch während der Corona-Pandemie ergangene Urteile vertreten die Auffassung, dass der Arbeitgeber bei einer pandemisch bedingten behördlich angeordneten Betriebsschließung die Lohngefahr trage (LAG Düsseldorf v. 30.3.2021 – 8 Sa 674/20, juris; LAG Niedersachsen v. 23.3.2021 – 11 Sa 1062/20, juris; ArbG Mannheim v. 25.3.2021 – 8 Ca 409/20, juris). Das BAG hat in einer grundlegenden Entscheidung vom 13.10.2021 entschieden, dass die im Rahmen eines allgemeinen "Lockdowns" zur Bekämpfung der Corona-Pandemie staatlich verfügte vorübergehende Betriebsschließung kein Fall des vom Arbeitgeber gem. § 615 S. 3 BGB zu tragenden Betriebsrisikos ist (BAG v. 13.10.2021 – 5 AZR 211/21). Das BAG differenziert hierbei: Zielt eine behördliche Maßnahme darauf ab, einem im Betrieb angelegten besonderen Risiko zu begegnen (etwa einer erhöhten Ansteckungsgefahr wie z.B. in Teilen der Fleis...

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