Rz. 515

Die Lehre von der Tragung des Betriebsrisikos versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, ob der Arbeitgeber zur Fortzahlung des Arbeitsentgeltes verpflichtet ist, wenn er die vom Arbeitnehmer wirksam angebotene Arbeit deswegen nicht annehmen kann, weil die Arbeitsleistung infolge von Betriebsstörungen ganz oder teilweise betriebstechnisch nicht möglich ist.

 

Beispiele

Wegen einer staatlichen Anordnung darf nicht gearbeitet werden (BAG v. 30.5.1963 – 5 AZR 282/62, DB 1963, 836 = BB 1963, 977);
Einstellung der Geschäftstätigkeit einer Bank aufgrund einer bankaufsichtsrechtlichen Maßnahme (LSG Hessen v. 20.8.2010 – L 7 AL 165/06, juris);
wegen eines Kurzschlusses in der betriebseigenen Trafostation kann nicht gearbeitet werden (BAG v. 30.1.1991 – 4 AZR 338/90, NZA 1991, 519 = DB 1991, 1525);
durch Brand sind die Betriebsanlagen vernichtet worden (BAG v. 28.9.1972 – 2 AZR 506/71, DB 1973, 187 = BB 1973, 196);
wegen schlechter Witterungsverhältnisse kann nicht gearbeitet werden (BAG v. 22.4.2009 – 5 AZR 310/08, NZA 2009, 913 = DB 2009, 1604; BAG v. 9.7.2008 – 5 AZR 810/07, NZA 2008, 1407 = DB 2008, 2599);
wegen eines Kälteeinbruches fällt die Ölheizung aus (BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 = NJW 1983, 2159);
wegen des Bruches einer Walze kann nicht gearbeitet werden (BAG v. 13.11.1974 – 4 AZR 106/74, AP Nr. 4 § 1 TVG Tarifverträge Metallindustrie = DB 1975, 648);
wegen fehlendem Ausbilder kann die Ausbildung eines Auszubildenden nicht durchgeführt werden (BAG v. 11.12.1964 – 1 AZR 39/64, DB 1965, 441 = NJW 1965, 709).
 

Rz. 516

Bei einer solchen Störung stellt sich die Frage, wer das Lohnzahlungsrisiko nach § 615 S. 3 BGB trägt. Nach dem durch das SchuModG eingefügten S. 3 des § 615 BGB gelten die Vorschriften über den Annahmeverzug in § 615 S. 1 und 2 BGB entsprechend in den Fällen, in denen der Arbeitgeber das Risiko des Arbeitsausfalles trägt. Die Vorschrift enthält keine Regelung darüber, in welchen Fällen das Risiko des Arbeitsausfalles beim Arbeitgeber liegt. Die Regelung geht von bestehenden Grundsätzen der Betriebsrisikolehre aus (s. BT-Drucks 14/6857, 11, 48; BT-Drucks 14/7052, 204; vgl. ErfK/Preis, § 615 BGB Rn 122), die vom BAG entwickelt wurden (s. grundlegend BAG v. 8.2.1957 – 1 AZR 338/55, DB 1957, 718 = NJW 1957, 687).

[Autor] Lampke

a) Betriebsrisikolehre

 

Rz. 517

Die Lehre vom Betriebsrisiko findet Anwendung, wenn der Arbeitnehmer zur Arbeit fähig und bereit ist, der Arbeitgeber ihn aber aus Gründen, die in seinem Betrieb liegen, nicht beschäftigen kann und weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer schuldhaft die Ursache für das Unterbleiben der Arbeitsleistung gesetzt haben (vgl. BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 = NJW 1983, 2159; BAG v. 28.9.1972 – 2 AZR 506/71, DB 1973, 187 = BB 1973, 196).

 

Rz. 518

Das Betriebsrisiko stellt nach der Rspr. des BAG einen Teil des wirtschaftlichen Unternehmerrisikos dar, das der Arbeitgeber nach der Wirtschafts- und Sozialverfassung und nach den Grundsätzen der Vertragstreue allein zu tragen hat. Wie der Unternehmer den Gewinn des Unternehmens erhält, muss er auch dessen Verluste tragen (BAG v. 8.2.1957 – 1 AZR 338/55, DB 1957, 718). Da der Arbeitgeber den Betrieb leitet und organisiert und Inhaber des Direktionsrechtes ist, hat er im Allgemeinen das Betriebsrisiko zu tragen. Er bleibt zur Lohnfortzahlung verpflichtet, auch wenn die Unmöglichkeit keine betriebstechnischen Ursachen hat, sondern als höhere Gewalt von außen auf das Unternehmen einwirkt (BAG v. 9.3.1983 – 4 AZR 301/80, DB 1983, 1496 = NJW 1983, 2159). Kein Fall des Betriebsrisikos liegt vor, wenn der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringen kann, weil ein Kunde des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer gegenüber ein Hausverbot erteilt hat, da dies nicht auf betriebstechnischen Umständen beruht (BAG v. 28.9.2016 – 5 AZR 224/16, juris). Ebenso scheidet ein Vergütungsanspruch gemäß § 615 S. 3 BGB aus, wenn dem Arbeitnehmer, einem Wachmann, vom Kunden des Arbeitgebers (den US-Streitkräften) die persönlich erteilte Einsatzgenehmigung entzogen wird, da der Genehmigungsentzug nicht zum Betriebsrisiko des Arbeitgebers gehört (BAG v. 23.9.2015 – 5 AZR 146/14, juris).

 

Rz. 519

Fraglich ist, ob die flächendeckende behördliche Schließung von Unternehmen infolge der Corona-Pandemie (Shut down) die Zuweisung des Betriebsrisikos an den Arbeitgeber rechtfertigt. Dies wird teilweise verneint. Sofern Arbeitgebern zu Zwecken des Gesundheitsschutzes behördlich die Schließung des Betriebs aufgegeben werde, trügen diese nur dann das Betriebsrisiko, sofern dies durch die besondere Eigenart des Betriebs bedingt sei. Dies sei etwa bei dem unter Rdn 515 aufgeführten Beispiel der Einstellung des Geschäftsbetriebs aufgrund einer bankaufsichtsrechtlichen Maßnahme der Fall. Die pandemiebedingte behördliche Schließung sei aber nicht in der besonderen Eigenart der Betriebe angelegt, vielmehr erfolge die Schließung wegen des allgemeinen Risikos einer Epidemie (Bonanni, ArbRB 2020, 110; Sagan/Brockfe...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge