Rz. 82

Grds. darf ein Anwalt auf den Fortbestand der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen.[401] Wegen der richtungsweisenden Bedeutung, die höchstrichterlichen Entscheidungen für die Rechtswirklichkeit zukommt, hat sich der Berater bei der Wahrnehmung seines Mandats grds. an dieser Rechtsprechung auszurichten; denn von einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung pflegt nur in Ausnahmefällen abgewichen zu werden. Maßgeblich ist die jeweils aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung im Zeitpunkt der Beratung.[402]

In "eng umgrenzten Ausnahmefällen" kann dies dann anders sein, wenn neue Gesetze oder neue "Rechtsfiguren" einwirken,[403] ein oberstes Gericht auf eine mögliche Änderung seiner Rechtsprechung in der Zukunft hingewiesen hat ("obiter dictum")[404] oder neue Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Auswirkungen auf eine ältere Rechtsprechung haben können und es zu einer bestimmten Frage an neueren höchstrichterlichen Erkenntnissen fehlt.[405] Eine allgemeine Pflicht, "nach Möglichkeit neue Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft … zu verfolgen und im Rahmen des Zumutbaren deren Auswirkungen auf eine ältere Rechtsprechung im Bereich der jeweiligen Problemfelder zu bedenken",[406] mag für einen Revisionsanwalt bestehen, für andere Rechtsanwälte aber grds. nicht. Im Regelfall wären diese – mit Rücksicht auf ihren Aufgabenbereich und ihre Arbeitsbedingungen[407] – durch eine solche Pflicht überfordert; hellseherische Fähigkeiten können nicht verlangt werden.

Eine anwaltliche Pflicht, bzgl. eines bestimmten Mandatsgegenstandes eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Betracht zu ziehen, setzt vielmehr voraus, dass sich dies aufgrund eindeutiger Umstände aufdrängt.[408] Dies kann z.B. auch dann der Fall sein, wenn zwei oberste Gerichte oder zwei Senate desselben obersten Gerichts zu einer Frage unterschiedliche Auffassungen vertreten, ohne bislang eine Klärung durch den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder den Großen Senat des betroffenen Obersten Bundesgerichts herbeigeführt zu haben. Hat der Berater eine Angelegenheit aus einem solchen Bereich zu bearbeiten, muss er auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit auf neue Entscheidungen durchsehen, wobei ihm ein realistischer Toleranzrahmen zuzubilligen ist. Entsprechende Vorlageentscheidungen werden veröffentlicht. Im Übrigen ist darauf abzustellen, mit welchem Grad an Deutlichkeit (Evidenz) eine neue Rechtsentwicklung in eine bestimmte Richtung weist und eine neue Antwort auf eine bisher anders entschiedene Frage nahelegt.

Für den Rechtsberater kann ferner ins Gewicht fallen, mit welchem Aufwand – auch an Kosten – einer neuen Rechtsentwicklung im Interesse des Mandanten Rechnung getragen werden kann und muss,[409] oder ob gar im Auftrag des Mandanten versucht werden soll, eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Klärung offener Fragen erstmals herbeizuführen oder eine schon bestehende Rechtsprechung im Hinblick auf neue Entwicklungen oder Erkenntnisse und Erfahrungen zu ändern. Es gibt Rechtsgebiete, die – auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung – ständiger Entwicklung unterliegen, etwa weil es um die Anwendung und Auslegung eines neuen, höchst komplexen und neu konzipierten Gesetzes geht, das zudem ständig geändert wird, über dessen Auslegung pausenlos eine starke und umfassende wissenschaftliche Diskussion geführt wird und wo die Hauptbeteiligten in vielen Fällen ohne relevantes eigenes Kostenrisiko Prozesse führen können, um Rechtsfragen klären zu lassen, mit denen sie von Berufs wegen in einer Vielzahl anderer Fälle immer wieder befasst sind. So ist dies etwa im Bereich des Insolvenzrechts. Hier befindet sich der vom Insolvenzverwalter mit der Prozessführung beauftragte Anwalt in einer Sondersituation, etwa wenn der Mandant in häufig präziser Kenntnis der – oft ungeklärten – Rechtslage den Anwalt beauftragt, den Versuch zu unternehmen, eine höchstrichterliche Rechtsprechung herbeizuführen oder eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu erreichen. Die Aufgabe des Rechtsanwalts besteht dann neben den üblichen Verpflichtungen darin, ein revisibles Urteil zu erreichen, also in der Berufung die Zulassung der Revision zu beantragen und Zulassungsgründe wie Rechtsgrundsätzlichkeit oder Rechtsfortbildungsbedarf (§ 543 Abs. 2 ZPO) vorzutragen.

[401] BGH, NJW 1993, 3323, 3324 = VersR 1994, 99 = WM 1993, 2129; BGH, 6.11.2008 – IX ZR 140/07, BGHZ 178, 258, Tz. 9 = WM 2009, 90; BGH, 25.9.2014 – IX ZR 199/13, WM 2014, 2274, Tz. 11; Jungk, DB 2009, 716, 717.
[404] BGH, NJW 1993, 3323, 3324 f. = WM 1993, 2129; vgl. BGHZ 60, 98, 102 = NJW 1973, 364; BGH, 6.11.2008 – IX ZR 140/07, BGHZ 178, 258, Tz. 9 = WM 2009, 90.
[406] Vgl. BGH, NJW 1993, 3323, 3324 f. = WM 1993, 2129.
[407] Vgl. Schneider, MDR 1972, 745, 746.
[408] Vgl. B...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge