a) Zweck der Regelung

 

Rz. 210

Die §§ 168 ff. SGB IX sollen auch im Falle einer Kündigung den besonderen Schutzinteressen schwerbehinderter Arbeitnehmer Rechnung tragen. Der Arbeitgeber kann das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer nur nach vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes gemäß § 168 SGB IX wirksam kündigen. Diese Zustimmungserteilung ist eine öffentlich-rechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung; eine ohne Zustimmung erklärte Kündigung ist unheilbar nichtig. Um dem Arbeitgeber zu ermöglichen, sich rechtstreu zu verhalten (etwa im Zusammenhang mit seinen Pflichten zur behinderungsgerechten Beschäftigung, der Zahlung der Ausgleichsabgabe und der Gewährung von Zusatzurlaub, §§ 164 Abs. 4, 160, 208 SGB IX), ist seine Frage nach der Schwerbehinderung bzw. einem diesbezüglich gestellten Antrag im bestehenden Arbeitsverhältnis jedenfalls nach sechs Monaten, d.h. ggf. nach Erwerb des Behindertenschutzes gemäß §§ 168 ff. SGB IX, zulässig, insbesondere zur Vorbereitung von beabsichtigten Kündigungen.[358]

b) Schutzbereich

 

Rz. 211

Der Zustimmung des Integrationsamtes bedürfen alle arbeitgeberseitigen Kündigungen von Arbeitsverhältnissen mit schwerbehinderten und diesen gleichgestellten behinderten Menschen (§ 2 Abs. 2 und 3 SGB IX), auch außerordentliche und Änderungskündigungen.[359]

 

Rz. 212

Voraussetzung ist allerdings, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate besteht (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Keine Zustimmung ist notwendig bei einer einvernehmlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses; Gleiches gilt für die Eigenkündigung des Arbeitnehmers und bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Fristablauf.

 

Rz. 213

Oftmals übersehen wird folgende Sonderregelung: Nicht dem Sonderkündigungsschutz schwerbehinderter Menschen unterfallen ferner Personen, die das 58. Lebensjahr vollendet und Anspruch auf eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung aufgrund eines Sozialplans haben, wenn der Arbeitgeber ihnen die Kündigungsabsicht rechtzeitig mitgeteilt hat und sie der beabsichtigten Kündigung bis zu deren Ausspruch nicht widersprechen, § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 3a und S. 2 SGB IX. Der Kündigungsschutz greift daher umgekehrt, wenn die Abfindung oder ähnliche Leistung nicht aufgrund kollektivrechtlicher Regelung zugesagt wird, etwa bei einer Kündigung gemäß § 1a KSchG. Keine Leistung aufgrund eines Sozialplans sind auch Nachteilsausgleichsansprüche gemäß § 113 Abs. 3 BetrVG.[360] Die rechtzeitige Mitteilung der Kündigungsabsicht kann formlos geschehen, im eigenen Interesse des Arbeitgebers empfiehlt sich aber die schriftliche Dokumentation (Übergabebestätigung) oder Mitteilung unter Zeugen. In Anlehnung an § 4 KSchG dürfte eine dreiwöchige vorherige Ankündigung angemessen sein,[361] nach anderer Ansicht genügt eine Woche.[362] Auf die Widerspruchsmöglichkeit muss nicht hingewiesen werden. Wie die Mitteilung der Kündigungsabsicht ist auch der Widerspruch formlos möglich, sollte aber aus Beweisgründen ebenfalls immer schriftlich erfolgen, und zwar gegenüber dem Arbeitgeber oder einer sonst zur Entgegennahme von Erklärungen befugten Person. Der Widerspruch ist nur möglich bis zum Ausspruch der Kündigung.[363]

 

Rz. 214

Auf die Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung oder Gleichstellung kommt es für den Sonderkündigungsschutz nicht an.

[359] BAG 24.5.2012 – 6 AZR 679/10, NZA 2012, 1158: Anderes gilt für die Versetzung eines Dienstordnungsangestellten in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit; diese bedarf keiner Zustimmung des Integrationsamtes, denn bei Wiedererlangung der Dienstfähigkeit kann das Dienstverhältnis reaktiviert werden, mithin ist § 92 S. 1 SGB IX (jetzt: § 175 SGB IX) nicht analog anzuwenden.
[360] Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens, § 173 SGB IX Rn 8; GK-SGB IX/Lampe, § 173 IX Rn 24; vgl. auch BAG 12.2.2019 – 1 AZR 279/17, juris.
[361] Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, § 173 SGB IX Rn 17; ErfK/Rolfs, 20. Aufl. 2020, § 173 SGB IX Rn 3; Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens, § 90 SGB IX Rn 9.
[362] KR/Gallner §§ 168–173 SGB IX Rn 43.
[363] Kossens/von der Heide/Maaß/Kossens, § 173 SGB IX Rn 11; ErfK/Rolfs, 20. Aufl. 2020, § 90 SGB IX Rn 3; Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, § 173 SGB IX Rn 18.

c) Fehlender Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft

 

Rz. 215

Die Regeln über den Sonderkündigungsschutz sind aber nicht anwendbar, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft im Zeitpunkt der Kündigung nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt wegen fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers keine Feststellung über die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch treffen konnte, § 173 Abs. 3 i.V.m. § 152 Abs. 1 S. 3 SGB IX. Dabei ist die Schwerbehinderung "nachgewiesen", wenn sie entweder offensichtlich oder vom Versorgungsamt positiv festgestellt ist. Hat der Arbeitnehmer zwar einen Antrag auf Anerkennung gestellt, wurde hierüber jedoch noch nicht befunden, bleibt der Sonderkündigungsschutz erhalten, wenn der Antrag so frühzeitig vor dem Zugang der Kündigung gestellt wurde, dass eine Bescheidung de...

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