Rz. 22

Ausgehend von den vorgenannten Zwecken der Zuerkennung der Kompensation von immateriellen Beeinträchtigungen nach § 253 Abs. 2 BGB können bei der Bemessung einer billigen Entschädigung grundsätzlich alle in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden. Dabei kann ein Rangverhältnis der zu berücksichtigenden Umstände nicht allgemein aufgestellt werden, weil diese Umstände ihr Maß und Gewicht für die Bemessung der billigen Entschädigung erst durch ihr Zusammenwirken im Einzelfall erhalten.[51] Stets ist jedoch eine einheitliche "billige Geldentschädigung" zu bestimmen. So dürfen beispielsweise keine gesonderten Schmerzensgeldbeträge für unterschiedliche Bewusstseinsphasen eines Verletzten angesetzt werden; vielmehr ist die Leidenszeit einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen und auf dieser Grundlage eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen.[52]

 

Rz. 23

Der dagegen in jüngerer Zeit unternommene – zwar im Ansatz und Wunsch einer Rationalisierung bzw. Erhöhung der Berechenbarkeit/Vorhersehbarkeit von "billigen Entschädigungen" durchaus lobenswerte, jedoch methodisch untaugliche – Versuch die Schmerzensgeldbemessung auf ein Tagessatzsystem oder ähnliche Konstruktionen umzustellen,[53] ist mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.[54] Er setzt mit einem am durchschnittlichen Einkommen orientierten Tagessatz schon im Ansatz unpassenden falsch an, ignoriert mit ihrer linearen Hochrechnung anfänglicher Beeinträchtigungen etwa auch Erkenntnisse der Glücksforschung, wonach etwa Menschen, die unfallbedingt Dauerschäden erlitten haben, nach einer Übergangszeit durchaus von einer ähnlichen Lebenszufriedenheit wie vor dem Unfall berichten,[55] und gaukelt mit bestimmten Taxen für verschiedene Beeinträchtigungen bloß eine Scheingenauigkeit vor.[56] Denn z.B. ein Bruch des linken Ringfingers für einen Rechtshänder etwa bei einem Konzertpianisten (ungeachtet auszugleichender materieller Schäden) regelmäßig auch mit deutlich gravierenderen immateriellen Beeinträchtigungen einhergehen wird als beispielsweise bei einem Juristen.

 

Rz. 24

Dieser neue Ansatz wurde denn auch zu Recht vom Arbeitskreis II des 54. Verkehrsgerichtstags 2014, der hierüber eingehend beraten hat, ausdrücklich abgelehnt und hat auch in der höchst- und obergerichtlichen Praxis soweit ersichtlich – mit Ausnahme nur des OLG Frankfurt[57] – zu Recht keine Gefolgschaft gefunden wird vielmehr quasi einhellig in Rechtsprechung wie auch Literatur abgelehnt.[58] Namentlich wurde auch im Rahmen der Entscheidung der Vereinigten Großen Senate der obersten Bundesgerichte vom 16.9.2016[59] zutreffend – nochmals ausdrücklich das Erfordernis einer Bestimmung der "billigen Geldentschädigung" anhand einer umfassenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls bestätigt und bekräftigt. Daran ist de lege lata festzuhalten. Als im Einzelfall berücksichtigungsfähige Bemessungsfaktoren kommen demnach unter anderem die im Folgenden näher beleuchteten in Betracht.

[53] Vgl. insoweit v.a. Schwintowski/Schah-Sedi/Schah-Sedi, Handbuch Schmerzensgeld 2013.
[54] So zutreffend: Doukoff, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 253 BGB, Rn 100; G. Müller, zfs 2019, 247, 251: Kennzeichnend für den "Schaden, der nicht Vermögensschaden ist" ist seine Nichtmessbarkeit; Wenker, NZV 2014, 241, 242.
[55] Vgl. Korch, Schmerzensgeld und Glücksforschung, JZ 2019, 491.
[56] Zutreffend Luckey, NJW 2019, 3361: "scheingenau".
[57] Vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 18.10.2018 – 22 U 97/16, juris = NZV 2019, 351; relativierend (Tagessatzsystem nur als Plausibilitätskontrolle zur Berücksichtigung von Dauerschäden) demgegenüber derselbe Senat: OLG Frankfurt, Urt. v. 4.6.2020 – 20 U 34/19, juris.
[58] Vgl. – statt vieler – nur KG, Urt. v. 22.5.2019 – 25 U 118/18, juris; OLG Brandenburg, Urt. v. 16.4.2019 – 3 U 8/18, juris ("Irrglauben, jegliche Art und Intensität körperlicher Einschränkungen sowie Schmerzen objektiviert messen zu können; … fehlsam anzunehmen, … größere Einzelfallgerechtig­keit"); OLG Celle, Urt. v. 26.6.2019 – 14 U 154/18, juris; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.3.2019 – 1 U 66/18; OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.4.2020 – 15 W 18/20, juris (wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes unzulässige Bemessung von Schmerzensgeld nach Zeitabschnitten mit anschließender Addition); Bensalah/Hassel, NJW 2019, 403; Doukoff, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, § 253 BGB, Rn 100; Ernst, VersR 2019, 1122; Höher, VersR 2019, 1167; Lang, zfs 2020, 64 ff., 70–73; ders., jurisPR-VerkR 5/2020, Anm. 2; ders., jurisPR-VerkR 5/2019, Anm. 1 sowie jurisPR-VerkR 15/2019, Anm. 1; Luckey, NJW 2019, 3361; ...

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