Rz. 97
Wann das Verbringen oder Zurückhalten widerrechtlich ist, wird durch die Legaldefinition des Art. 3 HKÜ bestimmt. Danach liegt Widerrechtlichkeit vor (zu deren Nachweis im Wege der Widerrechtlichkeitsbescheinigung siehe eingehend Rdn 136 f.), wenn durch das Verbringen oder Zurückhalten das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allgemein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.[261] Das in Rede stehende Verhalten des anderen Elternteils muss es dem sorgeberechtigten Elternteil unmöglich machen, alle oder einzelne sorgerechtlichen Befugnisse oder Verpflichtungen wahrzunehmen.[262]
Rz. 98
Wurde beispielsweise durch ein australisches Gericht der Mutter zwar das alleinige Sorgerecht (sole custody) übertragen, während die Vormundschaft (guardianship) den Eltern gemeinsam verblieb, war die Mutter nicht berechtigt, ohne Zustimmung des Vaters mit dem gemeinsamen minderjährigen Kind Australien zu verlassen. Sie hat das Kind also widerrechtlich i.S.d. Art. 3 HKÜ außer Landes verbracht.[263]
Eine allein sorgeberechtigte Mutter verbringt das Kind auch dann widerrechtlich ins Ausland (hier: nach Deutschland) im Sinne des Art. 3 HKÜ, wenn ihr von einem Gericht im Herkunftsland (hier: Kanada) auferlegt wurde, das Land nicht ohne Zustimmung des Gerichts oder des anderen Elternteils zu verlassen.[264]
Hat aber ein Elternteil das räumlich unbeschränkte Aufenthaltsbestimmungsrecht inne, so ist das Verbringen oder Zurückhalten des Kindes im Ausland nicht widerrechtlich; das bloße Umgangsrecht des anderen Elternteils steht dem nicht entgegen.[265] Dasselbe hat der BGH auch für den umgekehrten Fall entschieden: Die Auswanderung eines allein aufenthaltsbestimmungsberechtigten Elternteils mit dem Kind ist grundsätzlich nicht widerrechtlich.[266]
Rz. 99
Zum Begriff des Zurückhaltens zählen regelmäßig solche Fälle, in denen sich das Kind zunächst rechtmäßig bei einer nicht sorgeberechtigten Person in einem anderen Vertragsstaat befindet und infolge einer Veränderung der Situation, z.B. durch das zeitliche Ende eines im Rahmen eines Umgangsrechts erfolgten Besuchs, herauszugeben oder zurückzubringen ist. Weigert sich die Person, bei der sich das Kind befindet, dieses Kind zum maßgeblichen Zeitpunkt herauszugeben oder zurückzubringen, liegt ein Zurückhalten im Sinne des HKÜ vor.[267] Ebenso, wenn jene Person das Kind in einem Kindergarten im Zufluchtsstaat anmeldet.[268] Anders ist die Lage zu beurteilen, wenn ein Kind gemäß einer rechtsgültigen Vereinbarung der Eltern jedes Jahr vom einen in den anderen Staat wechseln soll. Dann erwirbt es im einen Staat einen gewöhnlichen Aufenthalt, so dass das HKÜ nicht anwendbar ist, wenn es nach einem Jahr nicht wieder in den anderen Staat zurückgebracht wird.[269]
Rz. 100
Ein widerrechtliches Zurückhalten liegt auch von, wenn die Verbringung des Kindes zwar im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, diese aber später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, sofern das Kind im Zeitpunkt des Zurückhaltens noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsstaat hat. Letzteres ist im Zuge einer Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, wobei zu berücksichtigen ist, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung nur vorläufig vollstreckbar (und ggf. mit einem Rechtsmittel angefochten) war.[270] Ergibt diese Prüfung, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt des Zurückhaltens schon im anderen Mitgliedstaat hat, so scheitert mithin zwar eine Rückführung auf der Grundlage des HKÜ. Indessen steht dies nicht einer Anerkennung und Vollstreckung der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Sorgerechtsentscheidung entgegen.[271]
Rz. 101
Das Tatbestandsmerkmal des widerrechtlichen Zurückhaltens ist nicht als Dauerzustand, sondern als (einmalige) rechtswidrige Beeinträchtigung des Sorgerechts eines Elternteils anzusehen.[272]
Zur Unzumutbarkeit der Rückführung, wenn ein Gericht im Ursprungsstaat eine vorläufige Sorgerechtsentscheidung zugunsten des entführenden Elternteils getroffen hat, siehe Rdn 120.
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