Rz. 113

Die Rückführung braucht ferner nicht angeordnet zu werden, wenn sie mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder (siehe dazu auch Rdn 120) es sonst in eine unzumutbare Lage bringt, Art. 13 Abs. 1 Buchst. b HKÜ.[321] Beweisbelastet ist insoweit der das Kind zurückhaltende Elternteil.[322]

Diese Vorschrift ist ebenso wenig verfassungswidrig oder menschenrechtswidrig wie ihre restriktive Auslegung durch die Fachgerichte.[323]

 

Rz. 114

Das HKÜ geht von der Regel aus, dass die Rückführung des Kindes seinem Wohl am besten entspricht.[324] Die Zwecke des Abkommens weisen die Rückführungsanordnung grundsätzlich als zumutbar aus. Entscheidungen, die im Verbleiben des entführten Kindes eine seinem Wohl dienende Maßnahme sehen, sind daher regelmäßig verfehlt. Der entführende Elternteil muss es grundsätzlich auf sich nehmen, mit dem Kind zurückzukehren und dadurch selbst Nachteile zu erleiden.[325] Er hat durch sein Verhalten die Situation des Kindes zu verantworten und deshalb obliegt es ihm, alles zu tun, um weitere Schädigungen des Kindes zu vermeiden. Seine Weigerung, für die Zeit der Durchführung des Sorgerechtsverfahrens mit dem Kind in den Ursprungsstaat zurückzukehren ist daher grundsätzlich unbeachtlich. Behauptet er, keine Einreiseerlaubnis mehr in diesen Staat zu haben, so muss er dies nachweisen (dazu Rdn 109) und außerdem einen dahingehenden Antrag gestellt haben.[326]

 

Rz. 115

Der Verbleib des Kindes ist nur bei ungewöhnlich schwerwiegender Beeinträchtigung des Kindeswohls gerechtfertigt.[327] Bloße Belange, die im Rahmen einer Sorgerechtsregelung zu prüfen sind, reichen niemals aus.[328] Ebenso wenig sind die mit der Rückführung typischerweise verbundenen Beeinträchtigungen geeignet, eine schwere Kindeswohlgefährdung anzunehmen und die Rückführungsanordnung in Frage zu stellen.[329] Mit dem erneuten Wechsel der Umgebung und der Bezugsperson naturgemäß verbundene seelische Belastungen des Kindes, wie eine weite Entfernung des Heimatstaates, eine erneuter Wechsel des Sprachgebietes, Wechsel von Schule und sozialem Umfeld, sind also hinzunehmen. Vielmehr muss sich die Gefährdung als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen.[330]

 

Rz. 116

Die drohende Inhaftierung des antragstellenden Elternteils reicht für eine derartige Kindeswohlgefährdung ebenfalls allein nicht aus.[331] Die Sicherstellung der tatsächlichen Betreuung des Kindes durch einen Elternteil ist eine Frage, die im Rahmen einer Sorgerechtsregelung zu überprüfen ist, nicht im Verfahren nach dem HKÜ. Das gilt erst recht, wenn lediglich die Gefahr einer Inhaftierung besteht.[332] Schließlich wird jedenfalls in Deutschland bis zum Nachweis der Schuld des Angeklagten von dessen Unschuld ausgegangen. Soweit das Strafverfahren in einem anderen Land läuft, kann das Gericht allerdings geeignete Nachforschungen hinsichtlich der Rechtspraxis anstellen.[333] Ohne derartige Belege kann nicht von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen werden.

 

Rz. 117

Eine Gefährdung kann vorliegen, wenn die Befürchtung besteht, dass das Kind nach der Rückführung missbraucht[334] oder misshandelt[335] wird, der antragstellende Elternteil schwer alkohol- oder drogenabhängig ist, eine fanatisch-religiöse Erziehungseinstellung hat[336] oder das Kind in ein Kriegs- oder Krisengebiet zurückgeführt werden soll.[337] Auch die sachverständig nachgewiesene Gefahr schwerer psychischer Dekompensation des Kindes nach vorangegangenen Todesphantasien und suizidalen Tendenzen, einhergehend mit psychosomatischen Symptomen kann ausreichen.[338] Ebenso, wenn das Kind psychisch labil ist und dies auf Drohungen des antragstellenden Elternteils zurückzuführen ist.[339]

 

Rz. 118

Eine erhebliche Verzögerung[340] der Rückführungsentscheidung führt zu einer Integration des Kindes am neuen Aufenthaltsort. Mit fortschreitender Zeit lässt sich eine Rückführung daher immer weniger mit dem Kindeswohl vereinbaren.[341] Daher ist der Aspekt der Verfahrensdauer von ganz wesentlicher Bedeutung.[342] Nach Maßgabe dessen hat der EuGHMR festgestellt, dass die Vorschriften über die Rückführung nach dem HKÜ nicht automatisch oder mechanisch vollzogen werden dürfen. Vielmehr ist der Regelungsgehalt von Art. 8 EMRK auch in HKÜ-Rückführungsverfahren zu beachten und die Entscheidung individuell am Kindeswohl auszurichten.[343] Wichtig erscheint dem EuGHMR also, dass in Fällen einer Kindesentführung nicht – allein unter Hinweis auf die nach dem HKÜ gebotene rasche Entscheidung – sofort eine Rückführungsanordnung getroffen werden soll, wenn Umstände geltend gemacht werden, die das Kindeswohl nachhaltig betreffen und die einer Überprüfung bedürfen. Der Gerichtshof verlangt also in den jüngsten Entscheidungen eigentlich nur, dass die nationalen Gerichte – in der durch das Abkommen gebotenen Eile – alle gegen eine Rückführung vorgebrachten Einwände unter dem Blickwinkel des Kindeswohls prüfen.[344] Dies schreibt Art. 13 Abs. 1b HKÜ ohnehin vor.[345] ...

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