Rz. 124

Es kann vorkommen, dass im erstinstanzlichen Verfahren eine formelle Beteiligung eines Betroffenen, der durch die Entscheidung des Gerichts materiell beeinträchtigt ist, nicht erfolgt. Auch wenn die Beteiligung nach § 7 FamFG vorgeschrieben ist, muss diese auch tatsächlich vorgenommen werden. Erfolgt eine formelle Hinzuziehung zu Unrecht nicht, ist der Betroffene nicht Beteiligter im Sinne des FamFG.

Die Entscheidung, durch die der Betroffene materiell beeinträchtigt ist, ergeht dann ohne ihn und ohne sein Mitwirken.

 

Rz. 125

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob und gegebenenfalls wann die Beschwerdefrist für Beteiligte beginnt, die durch die Entscheidung zwar in ihren Rechten unmittelbar betroffen und damit gemäß § 59 Abs. 1 FamFG beschwerdeberechtigt sind, aber nicht formell am Verfahren beteiligt wurden.

 

Rz. 126

Es wird vertreten, dass die Rechtsmittelfrist im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit mit der zeitlich letzten schriftlichen Bekanntgabe an die formell Beteiligten in Gang gesetzt werde und ein nicht formell am Verfahren Beteiligter nach Ablauf dieser Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen müsse.[97]

Dies ergibt sich auch aus der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 63 Abs. 3 FamFG, nach der derjenige, der am erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt war, nur fristgemäß Beschwerde einlegen kann, bis die Frist für den letzten Beteiligten abgelaufen ist.[98]

 

Rz. 127

Es wird weiter vertreten, dass eine solche Lösung verfassungsrechtlich äußerst bedenklich und mit dem grundrechtsgleichen Recht des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei.

Bei einem "vergessenen Beteiligten" könne eine Rechtsmittelfrist ohne Bekanntgabe der Entscheidung an diesen nicht beginnen; dies sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich.[99]

Daher beginne die Rechtsmittelfrist in verfassungskonformer Auslegung analog § 63 Abs. 3 S. 1 FamFG erst mit Empfang der Entscheidung in Textform durch den nicht am Verfahren Beteiligten zu laufen.[100]

 

Rz. 128

Dieser Auffassung scheint sich auch der BGH in seiner Entscheidung vom 29.1.2013 anzunähern:[101]

Der Wortlaut des § 63 Abs. 3 FamFG biete keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, dass die dort geregelte Beschwerdefrist auch für diejenigen gelten soll, die am erstinstanzlichen Verfahren nicht beteiligt waren, aber von dem Beschluss in ihren Rechten beeinträchtigt werden und daher beschwerdebefugt seien. Die Begründung zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 63 Abs. 3 FamFG könne für die Auslegung dieser Vorschrift daher nicht maßgeblich sein. Die vorrangig am objektiven Sinn und Zweck des Gesetzes zu orientierende Auslegung könne nicht durch Motive gebunden werden, die im Gesetzgebungsverfahren dargelegt worden seien, im Gesetzeswortlaut aber keinen Ausdruck gefunden hätten.

Die Beschwerdefrist des § 63 Abs. 3 S. 1 FamFG könne zudem deshalb jedenfalls nicht für die in ihren Rechten betroffenen Beteiligten gelten, weil sonst deren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG), ein faires Verfahren (Art. 20 GG) und die Gewährleistung von Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verletzt würde.

Einen Anspruch auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren habe nicht nur derjenige, der an einem gerichtlichen Verfahren als Partei oder in ähnlicher Stellung beteiligt sei, sondern auch derjenige, der unmittelbar rechtlich von einem solchen Verfahren betroffen sei.

Die Rechtsschutzgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG erfordere zwar keine zeitlich unbegrenzte Zugänglichkeit des Rechtsweges; der Anspruch des Einzelnen auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle dürfe aber nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden.

 

Rz. 129

Die Entscheidung des BGH könnte weitreichende Konsequenzen für die Praxis haben. So dürfte jede Missachtung der Vorschriften über die Beteiligung dazu führen, dass die getroffene Entscheidung des Gerichts auch noch nach langer Zeit anfechtbar bleibt. Folgende Fallkonstellationen könnten beispielsweise betroffen sein:

Der Beschluss über die Vergütung des Nachlasspflegers, der ohne Beteiligung eines Verfahrenspflegers und/oder bekannter Erbprätendenten erlassen wird.
Der Ausschlussbeschluss im Gläubigeraufgebotsverfahren, der ohne Beteiligung der bekannten und mitgeteilten Gläubiger ergeht.
Der Beschluss über die Genehmigung eines Rechtsgeschäfts (z.B. Grundstückskaufvertrag), der ohne Beteiligung eines Verfahrenspflegers und/oder bekannter Erbprätendenten erlassen wird.

Es bestünde mithin weder für das Gericht noch für den Nachlasspfleger Rechtssicherheit.

[97] OLG Hamm v. 10.9.2010 – 15 W 111/10, ZEV 2011, 191; Preuß, DNotZ 2010, 265, 277 f.; Harders, DNotZ 2009, 725, 727.
[98] BT-Drucks 16/9733, S. 289.
[99] Heinemann, Die gerichtliche Genehmigung unter der Geltung des FamFG, FamFR 2009, 291263.

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