Rz. 519

Die Vermutungsbasis, dass eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG vorlag und für die Kündigung des Arbeitnehmers kausal war und dass der Arbeitnehmer ordnungsgemäß in einem Interessenausgleich benannt ist, hat zunächst der Arbeitgeber substantiiert darzulegen und ggf. zu beweisen.[531]

 

Rz. 520

Bei Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste kehrt sich im Kündigungsschutzprozess, in dem der Arbeitgeber im Allgemeinen gem. § 1 Abs. 2 S. 4 KSchG für das Vorliegen von dringenden betrieblichen Erfordernissen darlegungs- und beweispflichtig ist, die Darlegungs- und Beweislast um.[532] Die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers beschränkt sich auf die "Vermutungsbasis",[533] nämlich auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschriften des § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG bzw. § 125 InsO.

 

Rz. 521

Der Arbeitgeber muss mithin darlegen,

dass eine Betriebsänderung nach § 111 BetrVG vorliegt,
dass der Interessenausgleich wegen einer bestimmten Betriebsänderung rechtswirksam zustande gekommen ist,
dass der Arbeitnehmer wegen der diesem Interessenausgleich zugrunde liegenden Betriebsänderung entlassen worden ist,
ggf., dass der Arbeitnehmer einem bestimmten Betrieb oder Betriebsteil zugeordnet worden ist,
dass der gekündigte Arbeitnehmer in diesem Interessenausgleich namentlich bezeichnet ist.[534]
 

Rz. 522

Der Arbeitnehmer muss den bei widerleglichen Vermutungen i.S.v. § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 292 S. 1 ZPO offenen Beweis des Gegenteils als Hauptbeweis führen und im Falle der Beendigungskündigung nachweisen,

dass sein Arbeitsplatz trotz der durchgeführten Betriebsänderung noch vorhanden ist oder
eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens besteht (siehe Rdn 372 ff.).
 

Rz. 523

In beiden Fällen kann der Arbeitnehmer bei Zustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste der Kündigung auch mit dem Vortrag begegnen, dass

die Betriebsänderung nicht wie geplant und im Interessenausgleich zugrunde gelegt durchgeführt wird oder
sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat (§ 1 Abs. 5 S. 3 KSchG).
 

Rz. 524

Auch die Sozialauswahl soll danach nur auf grobe Fehlerhaftigkeit geprüft werden können. Die Beschränkung der Überprüfung der getroffenen Sozialauswahl bezieht sich nicht allein auf die Sozialindikatoren, nämlich die sog. sozialen "Grund- oder Kerndaten" Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten, sondern bezieht sich auf sämtliche Bestandteile der Sozialauswahl, nämlich auf den auswahlrelevanten Personenkreis, die Nichteinbeziehung von Arbeitnehmern, die etwaige Bildung von Altersgruppen und die Gewichtung der sozialen Grund- oder Kerndaten.[535]

 

Rz. 525

Die Sozialauswahl soll nach Auffassung des BAG nur dann als grob fehlerhaft i.S.v. § 1 Abs. 5 KSchG anzusehen sein, wenn sie jegliche Ausgewogenheit bei der Gewichtung der Kriterien vermissen lässt.[536]

 

Rz. 526

Hat der Arbeitgeber allerdings entgegen § 1 Abs. 3 KSchG keine Sozialauswahl vorgenommen, so spricht eine vom Arbeitgeber auszuräumende tatsächliche Vermutung dafür, dass die Auswahl auch im Ergebnis sozialwidrig ist.[537] Der Arbeitgeber muss dann darlegen, weshalb trotz der gegen § 1 Abs. 3 KSchG verstoßenden Überlegungen ausnahmsweise im Ergebnis soziale Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigt sein sollen.[538]

 

Rz. 527

Liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG vor, wird gemäß § 292 ZPO die rechtliche Folge – das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG – ohne weiteren Vortrag des Arbeitgebers gesetzlich vermutet. Nach § 292 ZPO ist (nur) der Beweis des Gegenteils zulässig. Es ist Sache des Arbeitnehmers darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, dass in Wirklichkeit eine Beschäftigungsmöglichkeit für ihn weiterhin besteht. Eine bloße Erschütterung der Vermutung reicht nicht aus. Es ist vielmehr ein substantiierter Tatsachenvortrag erforderlich, der den gesetzlich vermuteten Umstand nicht nur in Zweifel zieht, sondern ausschließt.[539]

 

Rz. 528

Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit i.S.d. § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG n.F. gilt nicht nur für die sozialen Indikatoren und deren Gewichtung selbst, vielmehr wird auch die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen von den Arbeitsgerichten nur auf ihre groben Fehler überprüft. Durch § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG soll den Betriebspartnern ein weiter Spielraum eingeräumt werden.[540]

 

Rz. 529

 

Hinweis

Die Darlegungs- und Beweislast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl liegt auch bei Massenentlassungen gem. § 1 Abs. 3 S. 3 Hs. 1 KSchG beim Arbeitnehmer, und zwar selbst dann, wenn diese die Folge einer Betriebsänderung nach §§ 111, 112a BetrVG sind.

 

Rz. 530

Auch dann, wenn ein Arbeitgeber die Kündigungstermine bewusst so gewählt hat, dass bei Zugrundelegung der früheren Rechtsprechung die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG (siehe Rdn 1042 ff.) gerade eben nicht erreicht wurden, genießt er Vertrauensschutz, denn we...

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