Rz. 160

Andernfalls ist die Rechtsbeschwerde gegen Urteile nur möglich, wenn sie auf Antrag zugelassen wird, § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG i.V.m. § 80 OWiG. Hierüber hat das Beschwerdegericht zu entscheiden, wobei eine Zulassung nur in den drei Varianten der Norm möglich ist:

zur Fortbildung des Rechts, § 80 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 OWiG,
zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, § 80 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 OWiG,
wegen Versagung des rechtlichen Gehörs, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG.

Zudem wird die Beschwerdemöglichkeit nach Abs. 2 der Norm nochmals eingegrenzt, indem bei Bußgeldern bis 100 EUR bzw. im Falle des Freispruches oder der Einstellung bis 150 EUR keine Verfahrensrügen angebracht werden können und das materielle Recht nur zur Rechtsfortbildung überprüfbar ist – mit Ausnahme der Versagung des rechtlichen Gehörs. Ob die aktuell geplante Gesetzesänderung diesbezüglich durchgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sind die Hürden für die Zulassung der Rechtsbeschwerde hoch.[334] Gegen einen Beschluss nach § 72 OWiG ist die Zulassungsrechtsbeschwerde nicht statthaft – § 80 Abs. 1 OWiG verweist ausdrücklich nur auf § 79 Abs. 1 S. 2 OWiG.[335]

 

Zulassungsrechtsbeschwerde als taktisches Mittel

Auch bei geringen Erfolgsaussichten kann die Zulassungsrechtsbeschwerde aus taktischen Gründen geboten sein. Die Bearbeitungszeit ist unterschiedlich, liegt jedoch bei rund drei bis sechs Monaten. Damit ist das Rechtsmittel durchaus ein Instrument im Hinblick auf Punktetilgungen im FAER.[336]

[334] Vgl. hierzu auch: Gutt/Krenberger, DAR 2015, 685.
[335] Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl. 2022, § 80 Rn 1; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 80 Rn 1.
[336] So auch: Fromm, zfs 2015, 484, 487.

1. Fortbildung des Rechts

 

Rz. 161

Die erste Variante ist kaum praxisrelevant. Es geht darum, den nachgeordneten Gerichten Klarheit bei der Auslegung von Rechtssätzen und der Ausfüllung von Gesetzeslücken durch das Beschwerdegericht zu verschaffen.[337] Insbesondere geht es nicht um Einzelfallgerechtigkeit.[338]

[338] BGH, Beschl. v. 12.11.1970 – 1 StR 263/70, BGHSt 24, 15–26, Rn 30, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 13.11.2009 – 3 Ss OWi 622/09, Rn 14, juris; OLG Bamberg, Beschl. v. 18.1.2011 – 3 Ss OWi 1696/10, Rn 9, juris; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 80 Rn 1a.

2. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung

 

Rz. 162

Auch bei dieser Variante geht es nicht um Einzelfallgerechtigkeit, sondern vielmehr um die Frage, ob schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen bzw. fortbestehen.[339] Die Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung ist gefährdet, wenn das Amtsgericht von der Linie des OLG – bewusst oder unbewusst – abweicht oder aber wenn es noch keine Klärung durch das OLG gibt und über das angegriffene Urteil hinaus Wiederholungsgefahr in vergleichbaren Fällen besteht.[340] In Frage kommen hier sowohl Verstöße gegen materielles Recht, als auch gegen Verfahrensvorschriften.

[339] OLG Koblenz, Beschl. v. 12.12.1989 – 2 Ss 504/89, juris = NJW 1990, 2398; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 80 Rn 5 m.w.N.
[340] OLG Hamm, Beschl. v. 3.2.2009 – 5 Ss OWi 637/08, Rn 3, juris; Junker, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl. 2016, Rn 3250 f.; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 80 Rn 6.

3. Versagung des rechtlichen Gehörs

 

Rz. 163

Der weitaus häufigste Zulassungsgrund in der Praxis ist die Versagung des rechtlichen Gehörs gem. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG. Hiermit soll das Bundesverfassungsgericht entlastet werden bzgl. der Beschwerde, dass Art. 103 Abs. 1 GG verletzt sein soll.[341] Eine analoge Erweiterung auf andere Rechtsverletzungen ist nicht möglich.[342]

 

Achtung!

Bislang ist die Zulassung bei Versagung des rechtlichen Gehörs nicht an eine Wertgrenze gekoppelt. Bereits 2020 wurde ein Gesetzesentwurf zur Effektivierung des Bußgeldverfahrens vom Land Hessen vorgelegt (BT-Drucks 107/20 vom März 2020). Danach sollte die Zulassung der Rechtsbeschwerde ab einer Geldbuße von mehr als 100 EUR möglich sein; unter 100 EUR würde nach § 80a OWiG-E die Möglichkeit einer Gehörsrüge eingeräumt, wonach das erstinstanzliche Verfahren fortzusetzen sei – vergleichbar § 321a ZPO. Der Rechtsausschuss hatte hiergegen keine Bedenken, die Bundesregierung war dagegen (BT-Drucks 19/21611, 33). Letztlich wurde der Gesetzesvorschlag auch insgesamt abgelehnt.

Nunmehr haben im Jahr 2022 Hessen und Nordrhein-Westfalen erneut einen in weiten Teilen gleichlautenden Gesetzesentwurf eingereicht (BT-Drucks 20/1545). Die Bundesregierung hat diese Systematik hingegen erneut – zutreffend – als systemfremd abgelehnt (Anl. 2 zu BT-Drucks 20/1545, 32). Ob diese Gesetzesänderung beschlossen wird, bleibt abzuwarten.

 

Rz. 164

Dem Betroffenen wird das rechtliche Gehör versagt, wenn ihm keine Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zu allen entscheidungserheblichen und ihm nachteiligen Sachen und Beweisergebnissen zu äußern.[343] Zusätzlich muss die Entscheidung des Amtsgerichts aber gerade auch auf dem unterbliebenen rechtlichen Gehör beruhen. D...

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