Polarisierung: Die Kluft überwinden
Tagtäglich erleben wir in Talkshows und Diskussionsrunden das Schwarz-Weiß-Denken und die Polarisierung in Reinkultur. Das Ziel: Mit einer pointierten eigenen Meinung Kante zeigen, Recht haben und die Diskussion gewinnen. In einer konfrontativen Art buhlen die Protagonistinnen und Protagonisten um die Deutungshoheit. Mit eindeutigen Antworten versuchen sie Kompetenz und Überlegenheit zu demonstrieren und sich selbst zu inszenieren. Welterklärende erklären Welterklärenden die Welt. Sie reden nicht, sondern verkünden und verlautbaren. Der einzige Mehrwert dieser Selbstdarstellungen besteht darin, dass die Zuhörenden Hinweise erhalten, wie das Gegenüber denkt.
"Polarisierung in Reinkultur: Welterklärende erklären Welterklärenden die Welt." – Hans A. Wüthrich
Prozesse der Spaltung, Trennung und Betonung von Gegensätzlichkeiten erleben wir aber nicht nur im Fernsehen, sondern in allen Bereichen unserer Gesellschaft. In der Politik beobachten wir, insbesondere in Zeiten erhitzter Debatten oder vor Wahlen, dass sich politische Absichten, Ideologien oder Überzeugungen stark voneinander unterscheiden und sich radikale Positionen ausbilden. Im sozialen Kontext lässt sich die Kluft oder wachsende Ungleichheit zwischen verschiedenen Milieus betreffend Einkommen, Bildung oder Zugang zu Ressourcen erkennen. Wenn es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit geht und die Schere zwischen Arm und Reich stets größer wird, kann dies zu einem Gefühl des Unrechts und zu Konflikten führen. Kultur und Religion sind ebenfalls Bereiche, in denen Polarisierung auftritt. Unterschiedliche Wertvorstellungen, Bräuche, Rituale oder Praktiken können Konflikte und Spannungen provozieren. Die einseitige und pointierte Berichterstattung in den Medien birgt zudem die Gefahr, dass sich Menschen immer mehr in Filterblasen bewegen, in denen sie hauptsächlich mit Gleichgesinnten interagieren und (selbst)bestätigende Informationen erhalten. Standpunkte verhärten sich und die Kompromissbereitschaft nimmt ab.
Zunehmende Polarisierung in Organisationen kann das Arbeitsklima negativ beeinflussen
Aber auch in Organisationen begegnen wir dem toxisch Gegensätzlichen. Zum Beispiel dann, wenn einzelne Abteilungen oder Teams stark voneinander abweichende Ziele verfolgen. Wenn also die Marketingabteilung ein schnelles Umsatzwachstum anstrebt, während die Produktentwicklung besonderen Wert auf nachhaltige Qualität und Innovation legt. Oder wenn Führungskräfte unterschiedliche Vorstellungen über die strategische Ausrichtung haben und diese zu internen Machtkämpfen führen. Kulturelle Vielfalt kann eine Bereicherung sein, sie kann aber auch Polarisierung und Konflikte provozieren. So zum Beispiel, wenn einzelne Gruppen nicht integriert oder sich artikulieren können. Auch nicht respektierte Generationsunterschiede können zur Polarisierung führen. Immer dann, wenn divergierende Wertvorstellungen, Arbeitsweisen und Erwartungen an die Arbeit nicht respektiert werden. Insgesamt kann die zunehmende Polarisierung in Organisationen Zusammenarbeit erschweren, die Kommunikation belasten und das Arbeitsklima negativ beeinflussen. Verfestigte Fronten, dogmatische Verhärtungen, schwelende Konflikte und Lagerbildungen können die Folge sein. Polarisierung ist somit ein Prozess, bei dem Meinungen, Überzeugungen oder Werte in einer Gesellschaft oder Gruppe auseinanderdriften und sich zu gegensätzlichen Extremen entwickeln. Sie stellt ein komplexes Phänomen dar, tritt in den unterschiedlichsten Formen auf und zeigt mannigfache Dynamiken.
Es besteht der Eindruck, dass die "gefühlte" Polarisierung zunimmt, und es scheint, dass wir in einer Spaltgesellschaft leben, in der das Trennende immer mehr das Verbindende verdrängt. Viele Konflikte werden lautstark über die Ränder ausgetragen und dadurch entsteht der Eindruck, dass die Gesellschaft stark polarisiert ist. Nach Auffassung des Philosophen und Ethikers Hanno Sauer gibt es jedoch nicht nur die extremen Meinungen, die sehr laut und dominant wirken. Er betonte anlässlich der Sendung "Sternstunde Philosophie" vom 8. Oktober 2023, dass es zwischen den Rändern und Polen eine breite Mitte gibt und sich nur wenige ideologisch wirklich tiefer liegende Meinungsunterschiede beobachten lassen. Die Übereinstimmungen in der Realität sind also größer, als dies subjektiv empfunden wird. Und er formuliert pointiert: "Eigentlich sind wir nicht unterschiedlicher Meinung, sondern wir hassen uns nur!"
Weshalb wir beobachten, was wir beobachten
Das Erlebbare hat seine Logik. Die Haltung der Dominanz hat sich über Jahrtausende Kulturgeschichte ausgebildet. Wir Menschen sind soziale Wesen, und für unser Selbstbild ist die Positionierung in einer Gruppe entscheidend. In unserer aufgeklärten Welt zielen auch Erziehung und Bildung auf die Befähigung zur eigenständigen Meinung. So fördern wir schon im frühen Alter unsere Kinder bei der Ausformung und Verteidigung eigener Standpunkte und Überzeugungen. In ihrer Entwicklung erleben sie, wie sich durch das Vertreten polarisierender Meinungen Kompetenz aufbauen lässt. Sie erfahren, dass das Abgrenzende und klare Positionsbezüge erwartet werden, und sie lernen, dass Profil, Status und Karriere entscheidend von der Qualität der eigenen Meinung abhängen. Verbunden mit diesem angelernten Anspruch, eigene, möglichst originäre Ansichten und Gesichtspunkte leidenschaftlich zu vertreten, ist leider auch die Ambition, Recht haben zu müssen. Der Zwang zur pointierten, rechthaberischen Position fordern auch die politische Parteienlogik und der öffentliche Raum. Mit der Notwendigkeit des Recht-haben-Müssens ist tendenziell eine Dehumanisierung verbunden, das heißt eine Dämonisierung Andersdenkender, wie es die Forscherin Brené Brown von der University of Houston in ihrer Podcastfolge vom 13. Januar 2021 beschreibt. Der andere ist von vornherein mein Gegner. Er behindert meine Entfaltung. Kultiviert wird das Gegensätzliche, die Abwehr und nicht die Anerkennung, das Trennende und nicht Verbindende. Auch die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Einfachheit, Klarheit und Orientierung in der komplexen Welt sowie die Dominanz der Aufmerksamkeitsökonomie, die besagt, dass in der medialen Welt nur das Laute und Provokante wahrgenommen wird, lassen sich als Gründe für die zunehmende Polarisierung nennen.
Das uns leitende "Betriebssystem", mit dem wir in den unterschiedlichen Rollen als Ehepartner, Erziehende, Mitarbeitende, Wissenschaftlerin, Politikerin und Führungskraft tagtäglich an Lösungen arbeiten, ist offensichtlich auf Polarisierung programmiert. Geleitet durch wenig reflektierte eigene Annahmen, Überzeugungen und Ideologien überschätzen wir uns und wir glauben, die Antworten zu kennen. Wir fühlen uns legitimiert und verpflichtet, die Welt zu erklären. Wir verwechseln Meinung mit Wissen, tun uns schwer, Gewissheiten loszulassen und verteidigen die eigenen Standpunkte.
Auch die Forschung nennt vielfältige Gründe für die zunehmende Polarisierung. So unter anderem das Informationsverhalten: Soziale Medien verändern die Art und Weise, wie Menschen Informationen konsumieren. Die mittels Algorithmen vorselektierten Informationen führen dazu, dass die bestehenden Überzeugungen und Vorlieben der Nutzerinnen und Nutzer verstärkt werden. Es fällt schwer, Kompromisse zu finden oder alternative Perspektiven zu akzeptieren. Daneben kann die Tatsache, dass Menschen sich stärker mit bestimmten sozialen oder politischen Gruppen identifizieren, dazu führen, dass andere Gruppen als Gegner betrachtet werden. Wirtschaftliche Ungleichheit und politische Fragmentierung fördern ebenfalls die Polarisierung. Wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie benachteiligt werden, neigen sie dazu, extremere Standpunkte einzunehmen und sich radikalen Bewegungen anzuschließen. Individuelle psychologische Merkmale wie Angst, Unsicherheit und die Neigung zur Konformität können ebenfalls Erklärungen für die zunehmende Polarisierung sein. In Zeiten erhöhter Ungewissheit suchen wir oft nach einfachen Antworten und klaren Positionen.
Wozu das Spaltende führt
So vielfältig die Ursachen für die Tendenz zur Polarisierung sind, so vielfältig sind auch die Auswirkungen. In der Tendenz führt Polarisierung zu einer:
- Betonung der Gegensätzlichkeit und zu entgegengesetzten Positionsbezügen,
- Akzentuierung und Verhärtung der Standpunkte,
- Trivialisierung und Vereindeutigung der Welt,
- Fokusverlagerung von sachlichen Argumenten auf emotionale Dispute,
- Diffamierung und zu Schuldzuweisungen, Spannungen und Konflikten,
- abnehmenden Kompromiss-, Dialog- und Kooperationsbereitschaft,
- eingeschränkten Kommunikation,
- starken, an Drittreferenzen von Gleichgesinnten orientierten Identität.
Die dunklen Seiten der Polarisierung sind aktuell in den USA augenfällig erkennbar. Der politische Diskurs ist vergiftet, die politischen Lager driften auseinander, Demokratie wird bedroht, gesellschaftliche Stabilität gefährdet und das Vertrauen in Institutionen und politische Prozesse untergraben. Oder wie es Joachim Gauck, der ehemalige deutsche Bundespräsident in seinem Buch "Freiheit: Ein Plädoyer" von 2017 formuliert: "Polarisierung entsteht, wenn Menschen nur noch in den Schützengräben ihrer eigenen Meinung verharren und nicht mehr bereit sind, zuzuhören und Kompromisse einzugehen." Wenn Extreme dominieren, bleibt das Verbindende, Integrative und Synergetische auf der Strecke. Ganz entscheidend aber, Polarisierung führt zu dogmatischen Verhärtungen und somit wird es immer weniger gelingen, passende Lösungen für die komplexen Probleme dieser Welt zu finden. Können wir uns dies als Gesellschaft wirklich leisten?
Was Gegensätze leisten können
Das bisher konturierte, einseitig negative Bild der Polarisierung, greift aber zu kurz. In bestimmten Kontexten können artikulierte Meinungsdivergenz, erlebbare Standpunktspaltung und Gegensätzlichkeit durchaus mehrwertstiftend sein. Polarisierung kann zu mehr Klarheit und Differenzbewusstsein führen. Sie kann helfen, die Unterschiede zwischen Positionen, Ansichten und Ideologien zu verdeutlichen. Polarisierung beinhaltet auch ein Aktivierungs- und Mobilisierungspotenzial. Sie kann Menschen ermutigen, regsam zu werden und sich für ihre Überzeugungen einzusetzen. Polarisierung kann lebendige Debatten provozieren, Meinungs- und Perspektivenvielfalt fördern. Aufgrund konträrer Standpunkte und der radikalen Infragestellung von Mustern können auch innovative Ideen entstehen. Polarisierung kann also für das Finden passender Lösungen mehrwertstiftend sein. Die spannende Frage lautet: Welches sind die Gelingensvoraussetzungen, damit Polarisierung diese positiven Effekte zeitigen kann? Meine These: Haltung entscheidet. Der Habitus, mit dem ich das Gegensätzliche einbringe, ist der Schlüssel dafür, dass in Diskursen und Dialogen das Polarisierende zu besseren Lösungen führen kann.
"Um das Destruktive der Polarisierung zu überwinden, ist eine spezifische Form von Demut nötig: die sogenannte 'intellektuelle Bescheidenheit'." – Hans A. Wüthrich
Weshalb mehr Demut Not tut
Wenn wir das Destruktive überwinden und das Funktionale der Polarisierung nutzen wollen, müssen wir unsere Haltung ändern. Was wir benötigen ist eine spezifische Form von Demut, eine sogenannte intellektuelle Bescheidenheit. Dabei handelt es sich um eine innere Souveränität, die es einem erlaubt, sich vom Habitus der Ich-Zentrierung, der rechthaberischen Deutungshoheit, der naiven Omnikompetenz und des trügerischen Wissens zu emanzipieren. Als Bausteine dieser intellektuellen Bescheidenheit lassen sich unterscheiden:
Realität als Eigenkonstrukt begreifen und Pluralität wertschätzen:
Ich bin bereit, die Vielfalt der Anschauungen zu billigen, statt Deutungshoheit zu verteidigen, die abweichenden Wirklichkeitskonstrukte nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu verstehen, sie wertzuschätzen und als gleichberechtigt anzuerkennen. Ich bin fähig, die eigene Weltsicht nicht als Referenz zu sehen und ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit meine Sicht der Realität als eine unter vielen zu verstehen und diese auch anderen zur Verfügung zu stellen. Ich akzeptiere, dass jede(r) in ihrer (seiner) Welt recht hat.
Nicht recht haben müssen und gemeinsam klüger werden:
Ich verzichte auf das Abgrenzende und Polarisierende als Mittel für den Kompetenznachweis und zur Markierung eigener Deutungshoheit. Ich begegne Dritten mit wertschätzender Empathie, Achtsamkeit und auf Augenhöhe und bemühe mich um ein faires Miteinander. Ich kommuniziere in der Haltung eines Lernenden und bin nicht nur tolerant, sondern differenzzugewandt. Ich setze mich dem Risiko aus, durch den Dialog klüger zu werden.
Unwissen eingestehen und produktiv zweifeln:
Ich anerkenne, dass die Mehrzahl der wirklich relevanten Fragen prinzipiell unbeantwortbar und Zweifel wichtiger als mutmaßliche Fakten sind. Ich verwechsle Überzeugtsein nicht mit Wissen und bin in der Lage ehrlich zu mir selbst zu sein. Ich bin bereit, Inkompetenz nicht mit Selbstbewusstsein zu kompensieren, die eigene Fehlbarkeit anzunehmen und zur Prävention vor Selbstüberschätzung zu nutzen.
Experimentell annähern und handelnd ins Verstehen kommen:
Ich befreie mich von trivialisierenden Interpretationen und akzeptiere die Mehrdeutigkeit und die Eigendynamik von Systemen. Ich konzentriere mich auf das Verstehen und widerstehe dem Reflex, unter Rückgriff auf die eigene Erfahrungswelt schnell Lösungen postulieren und vertreten zu müssen. Ich erkenne, dass gerade im Kontext zunehmender Unsicherheit der Wert von Erfahrung abnimmt und explorative Experimente den alternativlosen Zugang für das Verstehen der oft verborgenen Zusammenhänge darstellen.
Mainstream misstrauen und Kontraintuitives erproben:
Ich akzeptiere, dass es für komplexe Probleme viel mehr Lösungen gibt, als ich mir vorstellen kann und dass mir nur ein kleiner Teil des Lösungsraums zugänglich ist. Ich bin mir bewusst den Strömungen einer Mehrheit zu unterliegen und erkenne die daraus resultierenden Blockaden für die eigene Vorstellungskraft. Ich widerstehe der Versuchung, durch konformes Verhalten gefallen zu wollen und gemocht zu werden und denke barrierefrei. Ich schwimme nicht aus effekthascherischen Motiven gegen den Strom, sondern um wertvolle Impulse für die Lösungsfindung zu erhalten.
Ein unbescheidenes Postulat
Gesellschaft und Organisationen können sich die weitreichenden Effekte einer destruktiven Polarisierung nicht länger leisten. Zu groß und dringlich sind die anstehenden Probleme, die es zu lösen gilt. Die gezielte Förderung der intellektuellen Bescheidenheit im betrieblichen Kontext und damit eine Verbesserung der organisationalen Diskurskultur ist eine lohnende Aufgabe. Im Bewusstsein, dass die intellektuelle Bescheidenheit ein unbescheidenes Postulat darstellt, gilt es zu hoffen, dass wir in der Lage sind, unsere narzisstische Haltung zu ändern.
Dieser Beitrag ist erschienen in personalmagazin neues lernen, Ausgabe 1/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der App personalmagazin - neues lernen.
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