Organisationsstrukturen: Erfahrungen aus dem Silicon Valley

Warum kehren Unternehmen im Silicon Valley zu hierarchischen Entscheidungsstrukturen zurück? Was sind die Praxisprobleme mit OKR und im Performance Management? Antworten auf diese Fragen suchte Personalmanager Felix Berghöfer während eines einmonatigen USA-Aufenthalts.

Sind die Tech-Firmen im Silicon Valley weiter als in Deutschland? Welche Tools setzen sie ein? Wie gehen sie mit Herausforderungen wie Komplexität und Kommunikation um? Die Suche nach Einblicken zu Themen wie Performance Management und OKR (Objectives and Key Results) war der Ausgangspunkt für einen einmonatigen Aufenthalt in San Francisco und im Silicon Valley im Zuge des Axel-Springer-Fellowship-Programms. Über diese Themen sprach ich im November 2018 mit 30 Personen aus rund 20 Unternehmen. So konnte ich einen relativ breiten Überblick über die Situation in den Tech-Unternehmen und ihre HR-Themen gewinnen. Dabei ging es mir vor allem darum, mit „normalen“ Tech-Firmen zu sprechen, die für mein Unternehmen vergleichbarer sind als Google, Facebook und Co.

Die Ausgangssituation in den Tech-Unternehmen

Die Ausgangssituation in den Tech-Unternehmen ist von einem großen War for Talents und hoher Mitarbeiterfluktuation geprägt. Die Mitarbeiter bleiben ein bis zwei Jahre im Unternehmen und orientieren sich dann weiter. Deshalb betreiben die Arbeitgeber einen relativ hohen Aufwand, ihre Mitarbeiter zu binden, und die Führungskräfte legen einen starken Schwerpunkt auf das Performance Management. Sie wollen sicherstellen, dass es ihren Mitarbeitern gut geht und nutzen dafür die Feedback-Gespräche. 

Performance Management funktioniert ähnlich wie in Deutschland. Zweimal im Jahr finden Mitarbeitergespräche mit Bewertungsdimensionen statt. Allerdings ist die Herangehensweise anders. Die meisten Mitarbeiter wollen etwas leisten und nach vorn kommen. Die wenigsten müssen angeschoben werden. Die Führungskräfte nutzen die Feedback-Gespräche eher, um sicherzustellen, dass es ihren Mitarbeitern an nichts fehlt und dass sie gut arbeiten können. Falls es doch einmal Performance-Probleme gibt, wird allerdings hart durchgegriffen. 

Performance-Management: Wohlfühlen und hart durchgreifen

In diesem Fall wird ein Performance-Improvement-Plan aufgesetzt. Zunächst teilt die Führungskraft dem Mitarbeiter mit, dass seine aktuelle Leistung nicht passt. Sie beschreibt die Effekte, die das Verhalten nach sich zieht und zeigt die Ziele auf. Anschließend stellt sie die idealen Ergebnisse dar, die der Mitarbeiter liefern soll, und die Maßnahmen, mit denen er sie erreichen soll. In der Regel bekommt der Mitarbeiter vier Wochen Zeit eingeräumt, um seine Performance zu verbessern und die Ziele zu erreichen – egal, wie lange er dafür arbeiten muss. Klappt das nicht, wird er sehr schnell freigestellt. Die Kündigungsfrist beträgt lediglich zwei Wochen. 

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Das ist der große Unterschied zu deutschen Unternehmen: Hierzulande versuchen die Unternehmen sehr lange, an Mitarbeitern festzuhalten und sie weiterzuentwickeln. In US-Unternehmen wird derjenige, der nicht mitzieht oder hineinpasst, sehr schnell wieder aussortiert, trotz des Fachkräftemangels. Dem gegenüber stehen hohe Bemühungen der Arbeitgeber, die Mitarbeiter zu halten und die hohe Quote der Kündigungen von Mitarbeitern zu verringern.

Das Comeback der Hierarchien 

Entscheidungen in US-Tech-Unternehmen werden stark top-down durchgesteuert. Vieles wird in der obersten Führungsetage entschieden und die Aufgabe der mittleren Führungskräfte ist es, diese an ihre Mitarbeiter weiterzugeben. Zwar hatten einige Unternehmen in den vergangenen Jahren Führungsebenen abgebaut, während andere weiterhin klassisch top-down strukturiert waren. Aber viele der Unternehmen, die frühere weitere Führungsschlüssel hatten – etwa 20 Entwickler pro Führungskraft – sind mittlerweile wieder zu den stärker hierarchischen Strukturen zurückgekehrt. Sie haben erkannt, dass die Führungskräfte eine wichtige Funktion ausüben, indem sie Ansprechpartner sind und mehr Nähe zu ihren Mitarbeitern haben.  

Führungskräfte sind verantwortlich für die Team-Performance

Die breiten Führungsspannen brachten Probleme mit sich, weil in manchen Fällen nicht klar geregelt war, wer welche Entscheidungen trifft. Ein weiteres Problem war die Zunahme von Kommunikation und Konflikten: Viel mehr musste ausgehandelt werden, was zuvor über die Hierarchie geklärt wurde. Die Unternehmen erkannten: Flache Hierarchien haben den Nachteil, dass keiner wirklich verantwortlich ist. Es ist schwierig herauszufinden, wer letztendlich dafür verantwortlich ist, wenn Teams ihre Ziele nicht erreichen. Hierarchie kann deswegen auch Vorteile haben und schnelle Entscheidungen ermöglichen. 

In zahlreichen Gesprächen zeigte sich, dass die Unternehmen die Verantwortung klar bei den Führungskräften sehen. Das sind die Personen, die die Verantwortung für die Team-Performance tragen. Sie sind einerseits für das Wohlbefinden des Teams verantwortlich und garantieren auf der anderen Seite den Output. Sie müssen dafür sorgen, dass der Umgang miteinander freundschaftlich ist und dass ein Austausch gegeben ist. Sie sind nicht dazu da, alle Kleinigkeiten zu entscheiden, sondern können auch viel Verantwortung ins Team geben. Aber sie setzen die Meilensteine, sodass klar ist, welche Person was verantwortet. 

Nicht alles ist agil wie aus dem Lehrbuch 

Agiles Arbeiten ist weiterhin im Trend. In den Tech-Unternehmen im Silicon Valley und in San Francisco ist der Scrum-Ansatz stark verbreitet. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die Herausforderungen agiler Teams nicht immer gut gelöst sind. Deshalb stellen einige Beteiligte starre Vorgaben infrage: Wa­rum müssen Sprints immer zwei Wochen dauern? Wenn ein Team in dieser Zeit kein „Potentially Shippable Product“ entwickeln kann, verliert es viel Zeit damit, erneut alle begleitenden Themen wie Review und Sprint Planning durchzuführen, bevor es einen neuen Sprint starten kann. Auch die Abstimmung zwischen den Teams wird als Problem erkannt. Zwar gibt es Abstimmungsrunden, doch da wird viel besprochen, was später operativ nicht ins Laufen gebracht wird. 

Eine weitere Herausforderung ist die selbstorganisierte Arbeit: Am Ende muss das, was selbstorganisierte Mitarbeiter und Teams entwickeln, dem Unternehmen zuträglich sein. Durch die entwickelten Produkte muss immer wieder der Beweis erbracht werden, dass diese Organisationsform die richtige ist. Aber laut meinen Gesprächspartnern gibt es nur selten klare Pläne, wie zum Beispiel die Produktivität von Softwareentwicklern gemessen wird. Vor diesem Dilemma stehen viele HR-Verantwortliche in Organisationen mit agilen Teams. 

Ziele und Resultate werden genau vorgegeben 

Das Organisationsmodell „Objectives and Key Results“ (OKR) wird in den US-Unternehmen als Top-down-Prozess angesehen. Die Geschäftsführung gibt die Strategie vor und definiert Handlungsfelder, die entsprechend heruntergebrochen werden. Es ist Aufgabe der Abteilungsleiter zu sagen, woran die Teams arbeiten sollen, damit das auf die Unternehmensstrategie einzahlt. Dass die Abteilungsleiter nur die strategischen Handlungsfelder vorgeben und jedes Team dann selbst überlegen kann, wie es das Unternehmen voranbringen kann, kommt sehr selten vor. Das ist aus meiner Sicht spannend, da ich in Deutschland eine Diskussion erlebe, die in die andere Richtung geht: Hierzulande wird vielfach überlegt, dass das Management nur noch die Strategie vorgibt und sich alles dann in den Teams findet. Aus meiner Sicht entsteht dann das Problem, dass zwar jeder etwas aus seiner Sicht Zielführendes macht, aber dass die einzelnen Arbeitspakete nicht aufeinander abgestimmt sind. 

In den Unternehmen, die ich besucht habe, wird dagegen alles stark durchgesteuert. Schon bei den Key Results wird genau eingegrenzt, was herauskommen soll. Es wird ein klarer Handlungsrahmen vorgegeben. Das basisdemokratische Element steht nicht so sehr im Vordergrund. Teams werden primär durch die Entwicklung der Teamvision und die selbstbestimmte Festlegung von Themenschwerpunkten eingebunden. Aber die OKRs zahlen sehr stark auf die Unternehmensziele ein. Es ist eine grundsätzliche Herausforderung dafür zu sorgen, dass es auf der einen Seite eine klare Orientierung gibt und auf der anderen Seite die Teams das Gefühl haben, bestimmte Dinge selbst steuern zu können.

Right-Sizing beim Organisationsmodell „Objectives and Key Results“ (OKR)

Der größte Mehrwert der OKRs ist, dass die Unternehmen von einer jährlichen Planung wegkommen. Allerdings nehmen auch viele von den eigentlich vorgesehenen Quartalszielen Abstand, weil das zu aufwendig ist. Sie gehen verstärkt auf einen Viermonats- oder Halbjahresrhythmus, weil sie damit den Planungszyklus nicht so häufig neu durchführen müssen und weil sich in dieser Zeit nicht so viel ändert. Außerdem messen die Unternehmen nicht zwangsläufig alles bis auf den letzten Meter, sondern definieren eher Anwendungsfälle: Wie wollen wir dorthin kommen?

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Das Theoriemodell hinter OKR – die genaue Definition, wie etwas ausformuliert werden muss, und die Zeit, die für diese Formulierungen aufgewendet werden muss – wird zunehmend entspannter gesehen. Die Verantwortlichen merken, dass der Aufwand zu groß ist, wenn sie sich genau an das Lehrbuch halten. Ich persönlich finde die OKR-Systematik grundsätzlich sinnvoll, halte sie aber für überdimensioniert. Diese Meinung wurde mir im Silicon Valley bestätigt. In den US-Unternehmen findet aktuell ein Right-Sizing statt, bei dem der Aufwand auf die werttreibenden Elemente reduziert wird. Wir Deutschen sind dafür bekannt, dass wir Prozesse sehr genau umsetzen und Themen gut durchdacht angehen. Wir sollten von den Erfahrungen der US-Unternehmen profitieren und überlegen, in welchen Fällen eine detailgetreue Abbildung von Lehrbuchinhalten sinnvoll ist und in welchen Abweichungen praktikabler sind. 

Fazit: Ähnliche Herausforderungen hier wie dort  

Für die eigene HR-Arbeit brachte der Aufenthalt in den USA zunächst die Bestätigung, dass die Unternehmen im Silicon Valley auch nicht viel weiter sind und mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben. Für uns als Digitalunternehmen, das zahlreiche dieser Kultur- und Organisationselemente aufweist, sind viele Elemente vergleichbar. Bei Unternehmen anderer Branchen kann das ganz anders aussehen, da sie andere Mitarbeiterstrukturen und Herausforderungen aufweisen. Gerade beim Thema Hierarchien habe ich zahlreiche Parallelen zwischen Visual Meta und den besuchten Tech-Unternehmen festgestellt. 

Auch wir haben in den Tech-Departments und Engineering-Teams wieder mehr Führungskräfte installiert. Vor zwei Jahren, als ich zu Visual Meta kam, gab es eine hohe Führungsspanne mit 14 bis 15 Mitarbeitern pro Führungskraft. Da dies viele Herausforderungen mit sich brachte, führten wir eine Teamleiter-Ebene ein. Die Teamleiter sind Teil des Teams, programmieren mit und werden von einem Scrum Master unterstützt. Es war spannend zu sehen, dass es im Silicon Valley ein Unternehmen gibt, das den gleichen Weg gegangen ist. Im Gespräch mit der HR-Verantwortlichen zeigte sich, dass wir unabhängig voneinander die Bedeutung der Führungskraft gestärkt haben, um die Produktivität der Teams sicherzustellen und um als Ansprechpartner für die Mitarbeiter da zu sein. 

Ableitung für die eigene Arbeit

Ein Punkt, den ich verstärkt in die Pflichtenhefte unserer Führungskräfte schreiben will, ist die Verantwortung für die Zufriedenheit der Mitarbeiter. Es ist sinnvoll, Fluktuationsquoten auf Führungskräfte oder Teams herunterzurechnen, um dann zu handeln. Wir können uns schlechte Führungskräfte nicht leisten, die Mitarbeiter vergraulen. 

Auch die Feedback-Tools, die ich vor Ort kennenlernte, sind eine weitere Überlegung wert. Bisher habe ich sie eher kritisch gesehen. Aber vor Ort sah ich, dass die Tools immer intelligenter werden. Die Bewertungen werden nicht nur gesammelt, sondern auch visualisiert. So sieht man auf einen Blick, wie sich das Feedback und die Performance-Bewertungen auf Team-, Abteilungs- oder Unternehmensebene verteilen und wo es Ausreißer gibt. Dadurch erhält HR ohne großen Aufwand einen guten Überblick, wo in der Organisation genauer hingeschaut werden sollte.

Diese Firmen wurden im Zuge des Silicon-Valley-Fellowship-Programms besucht: 15 Five, Accenture, AON, Branch, Capital One, Contentful , De Winter Group, Good & Co, Infinion, Lattice, Nvidia , Omni Sci, Pandorra, SAP Successfactors, Smartrecruiters, Snowflake, Starfish Leadership , The Sourcery, Vungle,  Zumper


Der Artikel ist zunächst im Personalmagazin, Ausgabe 03/2019, im Schwerpunkt "Organisationsexperimente" erschienen. 


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