Kolumne HR Tech: Im Recruiting von Goethes Gedichten lernen

Auf dem Heidelberger Philosophenweg wandelt Thomas Otter auf Goethes Spuren. Ein Gedicht verleitet ihn zu einer ungewöhnlichen Betrachtung. Was "Gefunden" mit dem Recruiting von Unternehmen zu tun hat, erläutert er in seiner Kolumne.


Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und Nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.


Meine Frau und ich haben die schöne Angewohnheit, fast jeden Morgen auf dem Philosophenweg in Heidelberg spazieren zu gehen, wir nennen es wandeln. Heidelberg ist ein besonderer Ort. Seit 1797, als Goethe die Stadt beschrieb, hat sich scheinbar nur wenig verändert. Es könnte gestern gewesen sein. Als Einwanderer habe ich Goethe nicht wie die meisten von Ihnen in einem Klassenzimmer entdeckt, sondern über das Internet und bestenfalls oberflächlich. Aber das Gedicht über die Blume (Originaltitel "Gefunden", Anm. d. Red.) schafft es immer wieder in meine Gedanken, auch wenn viele seiner anderen Werke mir ein noch zu entdeckendes Rätsel bleiben.

Die Brücke zeigt sich von hier aus in einer Schönheit, wie vielleicht keine Brücke der Welt

Mein Vorschlag für Sie ist, machen Sie einen virtuellen Spaziergang durch den Wald Ihrer Rekrutierungslandschaft. Ich möchte, dass Sie Ihre Systeme aus der Perspektive eines Außenstehenden betrachten. Nehmen Sie jetzt Ihr Handy heraus und sehen Sie sich die Karriereseite Ihres Unternehmens auf der externen Website an. Macht es Sie stolz, dort zu arbeiten, wenn Sie das lesen? Sind die Wörter mit Sorgfalt und Bedacht gewählt oder handelt es sich nur um austauschbare Phrasen? Ist die Benutzerfreundlichkeit auf dem mobilen Gerät gegeben oder haben Sie das Gefühl, dass sie auf den Desktop weitergeleitet werden? Tauchen Sie tiefer ein! Lesen Sie ein oder zwei Stellenbeschreibungen. Geben diese die tatsächlichen Arbeitsanforderungen wieder oder handelt es sich nur um generische Textbausteine? Und wenn Sie die Stellenbeschreibung lesen, klingt es dann nach etwas, das Sie den größten Teil Ihres Tages machen möchten? Bewerben Sie sich für eine Stelle und sehen Sie, wie das System reagiert. Führt es Sie durch den Wald oder lässt es Sie ziellos herumstolpern? Fühlen Sie sich umsorgt oder sind sie nur eine Nummer? Verbringen Sie einige Zeit auf Karriereseiten von Unternehmen, die Sie bewundern. Verbessert oder verschlechtert sich Ihre Wahrnehmung in Bezug auf diese Unternehmen? Was machen sie gut? Konzentrieren Sie sich auf die Wörter, die sie verwenden, nicht nur auf die Technologie. Wie läuft deren Prozess ab?

Die ich rief, die Geister, Werd' ich nun nicht los

Nun sollten Sie aus der Sicht des Arbeitgebers erklären, wie Ihre Systeme Ihnen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen, oder ob sie ein Eigenleben führen, eine Vielzahl von Daten sammeln und Entscheidungen treffen, die Sie nicht mehr ergründen können. Haben Sie die Dinge mit Bedacht automatisiert oder stecken Sie in einer GDPR-Version des Zauberlehrlings fest? Was genau ist dieses KI-Ding, das Sie bereitstellen? Blindes Vertrauen in die Technologie endet nie gut. Verschaffen Sie sich einen Überblick über alle Recruiting-Tools in Ihrer Organisation, ob selbstgebaut oder eingekauft, und finden Sie heraus, was diese Ihnen tatsächlich bringen. Wissen Sie, ob Ihre Rekrutierungsausgaben Ihnen tatsächlich dabei helfen, Kandidaten zu finden? Wenn Sie Machine Learning beziehungsweise künstliche Intelligenz einsetzen, stellen Sie sicher, dass die Algorithmen auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen basieren. Spiegeln Sie die Erfahrung des Bewerbers in diesen Prozess zurück. Helfen Ihre Prozesse Managern und Personalvermittlern wirklich oder bauen sie nebenbei Schattenprozesse auf?

Der Bewerbungsprozess kann mitunter stressig sein. Zwischen dem Bewerbenden und dem Unternehmen besteht eine massive Informationsasymmetrie. Der Arbeitgeber kennt den Prozess und die Teilnehmer, der Bewerber hat nur sehr wenige Informationen. Es gibt auch eine emotionale Asymmetrie. Für den Bewerber ist es wahrscheinlich die größte Entscheidung des Jahres, für den Arbeitgeber ist es nur eine von vielen Entscheidungen an einem Tag. In dem Gedicht behandelt Goethe die Blume mit Sorgfalt und Zuneigung. Ihre Systeme und Prozesse sollten Ihre Bewerber freundlich und fair behandeln. Wenn Sie dies richtig machen, werden Ihre Bewerber als Mitarbeiter aufblühen.
 

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.


Thomas Otter ist Gründer von Otter Advisory und berät große und kleine Unternehmen, Investoren und HR-Tech-Anbieter. Zuvor leitete er das Produkt-Management bei SAP Success Factors und war Research Vice President bei Gartner für HR Tech. Das Zusammenspiel von HR und Technologie fasziniert, desillusioniert und inspiriert ihn immer wieder. 

Schlagworte zum Thema:  Recruiting, Digitalisierung, HR-Software