Interview: Heike Ehmann über Selbstorganisation bei Mymuesli

Heike Ehmann begleitet die Einführung von selbstorganisiertem Arbeiten bei Mymuesli. Im Interview erklärt sie, wie holakratisch strukturierte Unternehmen funktionieren können, wie Rollen definiert werden und warum sie intern nicht den Titel „Head of HR“ trägt.

Haufe Online Redaktion: Frau Ehmann, Sie setzen bei Mymuesli auf eine selbstorganisierte Struktur. Glauben Sie, dass Mymuesli irgendwann zu 100 Prozent selbstorganisiert aufgebaut sein wird?

Ehmann: Es ist wichtig dieses Ziel zu haben, ich würde unseren Status eher als lernend bezeichnen. Dass wir an einem Punkt ankommen, an dem wir wirklich alle Lust haben, unseren Organismus selbst zu formen, an dem wir immer wieder lernen und immer wieder überlegen, was zu tun ist – ob erreichbar oder nicht – diese Vorstellung ist so schön, dass ich auf jeden Fall damit weiter machen will.

Auf dem Weg zur lernenden Organisation

Haufe Online Redaktion: Kann man das irgendwie messen? Gibt es Indikatoren dafür ob man dieses Ziel eines lernenden Organismus erreicht hat?

Ehmann: Man macht ständig eigene Indikatoren. Idealerweise fragt man sich immer wieder: Was ist mein nächster Schritt, um meinem Purpose näher zu kommen? Und für diesen nächsten Schritt kann man ein Ergebnis definieren. So kann man daran eben Kriterien erkennen und auf einmal wird das messbar. Die Ergebnisse kann man dann in den eigenen Lernprozess einbringen: Dieses Ziel habe ich erreicht, dieses aber nicht. Dann kann ich beim nächsten Mal noch fokussierter losgehen.

Haufe Online Redaktion: Holakratie zeichnet sich teilweise durch recht bürokratische Formen von Entscheidungsfindung in Meetings aus, die manchmal auch als langsam kritisiert werden. Teilen Sie diese Erfahrung?

Ehmann:  Unser Organigramm, also die Unternehmensstruktur von Mymuesli, entspricht einer holakratischen Form. Um diese anzupassen führen wir auch holakratische Governance Meetings durch. Diese machen uns bis jetzt nicht langsamer. Ich weiß nicht, ob es da ein richtig oder falsch gibt, in unserem Fall führt das jedenfalls zu Effizienz.

Holakratie: Governance-Meetings und zielverhindernde Gegenargumente

Haufe Online-Redaktion: Und wie läuft so ein Governance Meeting genau ab?

Ehmann: Ein Governance-Meeting zeichnet sich dadurch aus, dass es enorm strukturiert ist. Der klare Ablauf beginnt damit, dass jemand eine Spannung, eine Tension vorstellt: Welche Möglichkeit, diese Spannung aufzulösen, hat man beobachtet? Welche Konsequenz will man damit vermeiden? Dann werden in einer Runde alle Verständnisfragen beantwortet. In der nächsten Runde können alle Teilnehmer Feedback zu diesem Vorschlag geben. Danach kann derjenige, der die Spannung eingebracht hat, seinen Vorschlag aufgrund des Feedbacks nochmals anpassen. Wenn es kein zielverhinderndes Gegenargument gibt, wird die Entscheidung direkt aktiviert. Sollte es zielverhinderndes Gegenargument geben, muss man auch gleich einen integrativen Beitrag leisten, der ebenfalls zur Anpassung führen kann. Und dabei redet eben immer nur eine Person im Raum, es gibt gar keine Diskussion.

Haufe Online Redaktion: Welche wichtigen Entscheidungen werden dann beispielsweise getroffen?

Ehmann: Die Meetings sind dafür da, um die Struktur zu ändern. Alle diese Entscheidungen sind sehr wichtig, weil sie für die eine Person, die eine Spannung einbringt, einen Unterschied machen. Dementsprechend: wann immer ein Vorschlag gemacht und angenommen wurde, ist das ein gutes Gefühl, weil man etwas erreicht hat. Bei einer wichtigen Entscheidung hätte man früher typischerweise gefragt: „Seid ihr damit einverstanden, dass ich darüber entscheide?“ Aber im Governance-Meeting funktioniert das anders. Man fragt: spricht etwas dagegen? Wenn niemand etwas vorträgt, das beweisbar dagegenspricht – das ist das zielverhindernde Gegenargument – dann wird das einfach gemacht. Das ist eine verkürzte Form der Entscheidungsfindung.

Selbstorganisation: Strukturen ständig anpassen können

Haufe Online Redaktion: Wäre es auch denkbar, dass man in einem solchen Meeting eine Stelle abschafft?

Ehmann: In unserem Fall sind wir in dem Punkt Stellen abschaffen eben noch nicht ganz holakratisch aufgebaut und wollen das auch erstmal nicht. Wir leben das Advice-Prinzip und die Konsultation. In diesem Sinne kann es sein, dass wir eine einzelne Rolle von heute auf morgen streichen. In so einem Fall bringt idealerweise die Person selbst die Spannung ein, die die Rolle ausfüllt. Ich habe beispielsweise gerade eben erst eine Info per Mail bekommen, dass eine meiner Rollen gelöscht wird. Darum hatte ich gebeten und das macht mich happy, dass ich nicht erst lange fragen muss, sondern: Es geht einfach!

Haufe Online Redaktion: Um welche Rolle ging es dabei konkret?

Ehmann: Es handelt sich dabei um eine Mini-Rolle, die ich einfach aktuell nicht ausführe, weil sie nicht gebraucht wird und die deshalb auch gelöscht werden musste. Nur so sind die Erwartungen innerhalb des Organismus klar und ich kann meine Zeit wieder in andere Rollen stecken.

Erwartungen von innen und außen

Haufe Online Redaktion: Auf der New Work Experience wurden Sie als „Head of HR“ angekündigt. Entspricht das überhaupt Ihrer Rolle, wie Sie sie intern leben?

Ehmann: Nein, intern habe ich diese Position gar nicht; intern bin ich Lead-Link des Circles. „Head of HR“ bin ich nur für die Visitenkarte, weil ich glaube, dass es anderen einfacher fällt mich zuzuordnen. Ich unterschreibe auch nie mit diesem Titel. Trotzdem werde ich oft in dieser Position angekündigt, auch bei diesem Event. Aber das ist nichts, was ich nach außen trage.

Haufe Online Redaktion: Wirkt sich das nicht trotzdem auf Ihre Rolle aus, sodass Sie auch intern als „Head of HR“ gesehen werden?

Ehmann: Absolut. Ich bekomme beispielsweise immer noch Service-Anfragen und es entsteht auch Auseinandersetzung, wenn ich diese nicht direkt beantworte. Bei solchen Mails hinterfrage ich eben, ob die Person das nicht anders hätte herausfinden können um zu sehen, ob unser System wirklich funktioniert.

Lernende Organisation: Nicht mehr Probleme für andere lösen

Haufe Online Redaktion: Sie haben in ihrem Vortrag auf der New Work Experience gesagt: „Ich bin total froh, nicht mehr Mutti sein zu müssen.“ Wie war der Weg zur lernenden Organisation für Sie persönlich?

Ehmann: Das letzte Jahr habe ich mit einer großen Dankbarkeit abgeschlossen. Aber hätte man mich unter dem Jahr gefragt, hätte ich bestimmt auch gesagt: Alles Mist! Meine Idee von „Mensch“ war immer schon, dass jeder bestimmte Begabungen und Talente hat. Jetzt habe ich auch das Gefühl, da ansetzen zu können. Ich muss nicht immer programmatisch mit jemandem reden und dementsprechend diese Mutti-Erziehungskur durchziehen, sanktionieren und mit diesen althergebrachten Instrumenten agieren. Stattdessen darf ich mir die Zeit nehmen, erst einmal zu schauen, wer da vor mir steht.

Bitte nicht falsch verstehen: das ist nicht ineffizient. Ich habe nun diese Instrumente, die ich jedem an die Hand geben kann und die jeder verwenden kann oder auch nicht. Aber ich muss dann nicht mehr das Problem für andere lösen. Gegebenenfalls kann ich auch helfen, überhaupt das Problem zu erkennen. Denn das ist häufig der Fall: dass man gar nicht genau weiß, wo das Problem liegt, sondern nur ein Symptom erkennt.

Haufe Online Redaktion: Welche Themen stehen für das kommende Jahr an?

Ehmann: Weiß ich nicht. Und ich liebe es, dass ich das antworten kann. Aber die Themen entwickeln sich in einer holakratischen Struktur ja selbst. Das, was ich weiß, ist, dass ich Lust habe, weiter daran zu arbeiten, jedem in diesem Organismus zu helfen, ihn zu nutzen und zu formen. Wir arbeiten weiter an unserem Purpose. Es bleibt also spannend.



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Schlagworte zum Thema:  Selbstorganisation, New Work