Bericht des Rats der Arbeitswelt: Interview mit Iwer Jensen

Zum ersten Mal hat der von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil einberufene Rat der Arbeitswelt einen Bericht mit Empfehlungen an die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vorgelegt. Iwer Jensen, Mitglied des Rats, verteidigt die Vorschläge im Interview gegen Kritik der Arbeitgeber.

Haufe Online Redaktion: Bei den Arbeitgeberverbänden ist der Bericht des Rats der Arbeitswelt nicht auf Begeisterung gestoßen. Er wurde als "relativ wertlos" eingeschätzt. Wie sehen Sie das? Sind Sie zufrieden mit den erarbeiteten Empfehlungen?

Iwer Jensen: Es war nicht zu erwarten, dass der Bericht überall auf ungeteilte Begeisterung trifft. Im Gegenteil: Dass man damit auch aneckt, liegt in der Natur der Sache. Die Kritik der Arbeitgeberverbände war zu erwarten, nicht zuletzt vielleicht auch deswegen, weil ehemalige Spitzenmanagerinnen dem Rat der Arbeitswelt im Frühjahr 2021 den Rücken gekehrt haben. Wir haben uns der Themen angenommen, die in der Pandemie besondere Bedeutung in der Arbeitswelt erlangt haben: Pflege, Arbeitsschutz, Homeoffice, Minijobs, Solo-Selbstständige und Weiterbildung. Wir haben analysiert, wo wir da Veränderungsbedarf sehen und, ohne interessengesteuert zu sein, Empfehlungen abgegeben. Mit der Kritik einzelner Verbände können wir leben.

Kritik am Bericht des Rats der Arbeitswelt: zu viel staatliche Regulierung?

Haufe Online Redaktion: Ein Vorwurf lautet, der Bericht sehe großen Regulierungsbedarf in Deutschland, den es so nicht gebe. Die Wirtschaft brauche flexible Rahmenbedingungen, statt immer mehr gesetzliche Regelungen.

Jensen: Wer Veränderungen bewirken möchte, muss Dinge anders regeln als sie bisher geregelt waren, insofern gibt es selbstverständlich Regulierungsbedarf. Die Wünsche der Arbeitgeber sind dabei auch nicht unbeachtet geblieben oder zu kurz gekommen; Stephan Schwarz und ich haben die Unternehmenssicht mit eingebracht und auch die im Frühjahr ausgeschiedenen Ratsmitglieder, die als Arbeitgebervertreter in den Rat berufen worden waren, haben über ein Jahr lang in bis dahin guter und konstruktiver Zusammenarbeit an der Entstehung des Berichts mitgewirkt.

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Haufe Online Redaktion: Sieht man sich den Bericht an, fällt auf, dass der Mitbestimmung und der Sozialpartnerschaft ein hohes Gewicht beigemessen wird. Kann das den Wünschen der Arbeitgeber entsprechen?

Jensen: Der Verdacht, einzelne Ratsmitglieder hätten bei ihrer Arbeit im Rat einseitig Interessenpolitik verfolgt, ist unbegründet. Wir sind alle als Experten in den Rat berufen worden und jeder hat dort auch sein spezielles Expertenwissen eingebracht, ohne sich dabei als Interessenvertretung irgendeiner Seite zu verstehen. Man muss auch kein enger Freund der Gewerkschaften sein, um zu sehen, dass die betriebliche Mitbestimmung in den Betrieben selbst natürlich ein entscheidender Motor von Veränderung sein kann. Niemand ist so nahe dran an den betrieblichen Themen wie die Arbeitnehmervertretung vor Ort. Vieles was man betrieblich regeln kann, kann dort besser und individuell zum jeweiligen Betrieb passender geregelt werden als das der Gesetzgeber tun könnte.

Nehmen Sie das Thema Homeoffice als Beispiel. Der Gesetzentwurf, der einen Anspruch auf Homeoffice vorgesehen hat, ist gescheitert. So etwas haben wir auch nicht empfohlen. Hier können die Betriebspartner die Regelungen treffen, die am besten zum Betrieb passen und der Gesetzgeber muss das nur dort flankieren, wo die Betriebspartner keine Regelungsmöglichkeit haben, wie etwa beim Versicherungsschutz im Homeoffice. Wer Mitarbeiter auf dem Weg zu Veränderungen motivieren und mitnehmen will, kann dafür keinen besseren Ansprechpartner finden als die Arbeitnehmervertreter vor Ort.

Minijobs haben ihr Ziel nicht erreicht

Haufe Online Redaktion: Welche praktische Relevanz werden die Empfehlungen haben, die der Rat ausspricht?

Jensen: Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Empfehlungen praktische Relevanz entfalten werden. Nehmen Sie das Thema Minijobs als Beispiel. Hier sind Veränderungen überfällig. Das eigentliche Ziel, welches damals bei der Einführung der geringfügigen Beschäftigung verfolgt wurde, nämlich eine Brücke zu bauen von Erwerbslosigkeit in einen sozialversicherungspflichtigen Haupterwerb, wird komplett verfehlt. Das findet kaum statt, dass Minijobber über ihren Minijob in ein reguläres Arbeitsverhältnis rutschen. Was passiert, ist, dass die geringfügige Beschäftigung als Möglichkeit genutzt wird, Arbeitsspitzen oder auch festen Bedarf an Arbeitskräften mit Beschäftigten abzudecken, die sich schnell gewinnen lassen, die man aber auch schnell wieder loswird. Dabei werden die Rechte, die auch Minijobbern zustünden, wie etwa Urlaub, Entgeltfortzahlung oder Kündigungsschutz, häufig missachtet. Das muss man ansprechen, auch wenn man damit diejenigen verärgert, die davon profitieren.

Haufe Online Redaktion: Werden die Minijobs in unserer Wirtschaft nicht als Flexibilisierungsinstrument gebraucht?

Jensen: Nein, flexibler Einsatz von Arbeitskräften ließe sich beispielsweise auch mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen erreichen. Trotzdem empfehlen wir nicht die vollständige Abschaffung der Minijobs. Es wird Bereiche geben – etwa die Beschäftigung von Schülern, Studenten, Rentnern oder Ehrenamtlichen – wo geringfügige Beschäftigung weiterhin sinnvoll und notwendig ist.

Coronapandemie hat Handlungsbedarf offengelegt

Haufe Online Redaktion: Ein anderes großes Thema in der Pandemie war die Pflege. Das hat sich der Rat auch vorgenommen. Auf welchen Überlegungen beruhen die Empfehlungen des Rates dazu?

Jensen: Das Thema hat eine hohe Dringlichkeit, auch nach der Pandemie. In den kommenden Jahren wird entscheidend sein, ob und wie es gelingt, die Arbeit der Zukunft in den Pflegeberufen und mit den Pflegeberufen zu gestalten. Der Personalbedarf wächst allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung und kann schon heute nicht mehr gedeckt werden. Wenn es nicht gelingt, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen, damit mehr Menschen sich für den Pflegeberuf entscheiden und vor allem auch dort Bedingungen vorfinden, die sie nicht wieder veranlassen, dem Beruf vorzeitig den Rücken zu kehren, dann wird der Fachkräftemangel in der Pflege nicht bewältigt werden können. Hier muss man handeln.

Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, wie schnell Reserven aufgebraucht sind und wie schutzlos die Solo-Selbstständigen sind."


Haufe Online Redaktion: Die Solo-Selbstständigen, eine weitere von der Pandemie krisengeschüttelte Gruppe, hat der Rat auch in den Fokus genommen. Mit welchen Ergebnissen?

Jensen: Da gibt es einzelne, denen es gut geht. Die brauchen keine Arbeitslosenversicherung, können sich private Krankenversicherung leisten, können ausreichend für ihr Alter vorsorgen. Aber viele eben nicht. Gerade in der Pandemie hat sich gezeigt, wie schnell Reserven aufgebraucht sind und wie schutzlos die Solo-Selbstständigen sind, die in guten Zeiten als kleine "Einzelunternehmer" ja einen wichtigen Beitrag zur Gesamtwirtschaft erbringen. Hier wollen wir einen Weg in die Arbeitslosenversicherung, in eine Unfallversicherung, in die Krankenversicherung und in eine Altersvorsorge erleichtern. Damit diese Gruppe, wie es jetzt geschehen ist, nicht auf Leistungen der Grundsicherung zurückgreifen muss, wenn ihnen die Ausübung ihrer Tätigkeit – auch aus anderen als pandemiebedingten Gründen – nicht mehr möglich ist.

Rat der Arbeitswelt zum Recht auf Weiterbildung

Haufe Online Redaktion: Viel Platz im Bericht nimmt auch das Thema Weiterbildung ein. Der Rat plädiert dafür, wieder einen größeren Fokus auf das Thema betriebliche Ausbildung zu legen. Wo gibt es Handlungsbedarf?

Jensen: Verkürzt kann man sagen: Wir fordern eine Abkehr vom Recht auf einen Job hin zu einem Recht auf Aus- und Fortbildung. Nur mit Weiterbildung werden wir den Herausforderungen gerecht werden können, welche der schnelle Wandel der Arbeitswelt mit sich bringt. Das sehen wir nicht nur als Aufgabe der Politik an. Hier sind auch die Unternehmen gefordert, für innerbetriebliche Weiterbildungskonzepte zu sorgen und Bildungschancen und berufliche Entwicklung zu ermöglichen. Die großen Unternehmen haben das vielfach schon etabliert, bei den kleinen und mittleren Unternehmen gibt es noch großen Nachholbedarf. Aufgabe der Politik ist es, Weiterbildung auch finanzierbar zu machen. Es muss auch für ältere Beschäftigte Fördermöglichkeiten geben, um sich beruflich weiterqualifizieren oder neuorientieren zu können.

Haufe Online Redaktion: Wie geht es weiter mit dem Rat der Arbeitswelt?

Jensen: Wir nehmen den nächsten Bericht in Angriff! Die vakanten Stellen im Rat – Herr Bsirske wird uns verlassen, weil er im Herbst für den Bundestag kandidiert - werden nachbesetzt werden. Dann werden wir wieder Themenschwerpunkte festlegen, denen wir uns widmen werden.

Haufe Online Redaktion: Viel Erfolg dabei und vielen Dank!


Zum Interviewpartner:

Iwer Jensen wurde im November 2019 in den Rat der Arbeitswelt berufen. Er war von 2009 bis 2019 Vorstandsvorsitzender der Team AG, welche mit rund 3.000 Mitarbeitenden in der Energie- und Baubranche aktiv ist.


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