Rz. 919

Voraussetzung für die Anwendung des § 1 Abs. 4 KSchG ist das Vorliegen einer wirksamen Auswahlrichtlinie.

 

Rz. 920

Zum einen muss die Richtlinie wirksam zustande gekommen sein. Handelt es sich um eine Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG, so muss der Arbeitgeber sie mit dem zuständigen Betriebs-, Gesamtbetriebs- bzw. Konzernbetriebsrat verhandelt und abgeschlossen haben. Kommt keine Einigung zustande, entscheidet die Einigungsstelle verbindlich. In Betrieben mit bis zu 500 Arbeitnehmern kann allein der Arbeitgeber nach § 95 Abs. 1 Satz 2 BetrVG die Einigungsstelle anrufen. In Betrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern nach § 95 Abs. 2 BetrVG wird sie auf Antrag des Arbeitgebers oder des Betriebsrats tätig. Die Betriebsvereinbarung muss ferner auf einem wirksamen Beschluss des Betriebsrats beruhen. Im Übrigen gilt das Schriftformerfordernis des § 77 Abs. 2 BetrVG; die Auswahlrichtlinien müssen schriftlich niedergelegt und von beiden Seiten unterzeichnet werden.

 
Hinweis

Der Betriebsrat hat auch dann ein Mitbestimmungsrecht nach § 95 BetrVG, wenn der Arbeitgeber das Punkteschema nicht auf alle künftigen betriebsbedingten Kündigungen, sondern nur auf konkret bevorstehende Kündigungen anwenden will (BAG, Urteil v. 9.11.2006, 2 AZR 812/05[1]).

Eine Verletzung dieses Mitbestimmungsrechts kann der Betriebsrat mittels des allgemeinen Unterlassungsanspruchs abwehren. Die Verwendung einer Auswahlrichtlinie, die ohne Mitwirkung des Betriebsrats aufgestellt wurde, führt jedoch nicht per se zur Unwirksamkeit der auf ihrer Grundlage ausgesprochenen Kündigung.[2]

 

Rz. 921

Tarifliche Auswahlrichtlinien sind nach h. M. Betriebsnormen; ihre Geltung erstreckt sich auch dann auf alle Arbeitnehmer eines Betriebs, wenn lediglich der Arbeitgeber tarifgebunden ist (§ 3 Abs. 2 TVG[3]).

 

Rz. 922

Zum anderen darf die Richtlinie nicht gegen zwingendes Recht verstoßen. Insoweit sind vor allem die Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) von Bedeutung.[4] Differenziert die Richtlinie anhand verpönter Merkmale des § 1 AGG, so dürfte die Auswahl stets "grob fehlerhaft" sein. Ferner stellt auch § 1 Abs. 3 KSchG eine höherrangige Rechtsquelle gegenüber tariflichen oder betrieblichen Auswahlrichtlinien dar. Eine Richtlinie, in der die Kriterien des § 1 Abs. 3 KSchG überhaupt keine Berücksichtigung finden, ist gesetzeswidrig und unbeachtlich.[5] Soweit die Richtlinie aber den gesetzlichen Vorgaben entspricht, haben Tarifvertrags- und Betriebspartner beim Vergleich der maßgeblichen Sozialindikatoren (Betriebszugehörigkeit, Alter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) allerdings einen Wertungsspielraum (BAG, Urteil v. 5.6.2008, 2 AZR 907/06[6]).

 

Rz. 923

Tarifvertragliche Regelungen, die bestimmten Arbeitnehmern einen Sonderkündigungsschutz gewähren, z. B. die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung einschränken oder ausschließen[7], sind keine Auswahlrichtlinien i. S. d. Gesetzgebers. Entsprechend geschützte Arbeitnehmer sind bereits nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen.

 

Rz. 924

Ein Interessenausgleich gem. § 112 BetrVG ist keine Betriebsvereinbarung. Auswahlkriterien in einem Interessenausgleich gelten zudem nur für einen Einzelfall und stellen keine Auswahlrichtlinie i. S. v. § 95 BetrVG dar. Allerdings ist die Sachlage durchaus vergleichbar. Der Normzweck des § 1 Abs. 4 KSchG gebietet daher nach h. M. eine entsprechende Anwendung der Bestimmung auf Auswahlkriterien, die Bestandteil eines Interessenausgleichs sind.[8] Angesichts der unklaren Rechtslage und der Bedeutung für die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen empfiehlt sich indessen der Abschluss einer gesonderten Betriebsvereinbarung mit dem örtlichen Betriebsrat.[9]

[1] NJW 2007 S. 2429; vgl. BAG, Beschluss v. 26.7.2005, 1 ABR 29/04, BB 2005 S. 2819 und Gaul/Bonanni/Naumann, BB 2006, S. 549; ablehnend Bengelsdorf, ZfA 2007, S. 277.
[2] ErfK/Oetker, 18. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 353; Schiefer, DB 2007, S. 54, 58; Richardi/Thüsing, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 95 BetrVG, Rz. 8.
[3] ErfK/Oetker, 18. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 352 m. w. N.; APS/Kiel, 54. Aufl. 2017, § 1 KSchG, Rz. 695; s. auch KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2016, § 1 KSchG, Rz. 695.
[4] BGBl. I S. 1897; vgl. dazu Wisskirchen, DB 2006, S. 1491 ff.; Annuß, BB 2006, S. 1629; Willemsen/Schweibert, NJW 2006, S. 2583 m. w. N.
[5] ErfK/Oetker, 18. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 355; s. auch KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2016, § 1 KSchG, Rz. 696.
[6] NZA 2008 S. 1120, 122, Rz. 19.
[7] Zur Zulässigkeit tariflicher Unkündbarkeitsregelungen BAG, Urteil v. 20.6.2013, 2 AZR 295/12, NZA 2014 S. 208.
[8] Vgl. APS/Kiel, 5. Aufl. 2017, § 1 KSchG, Rz. 693; Preis, RdA 1999, S. 311, 320; HWK/Quecke, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 408 m. w. N.; differenzierend KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2016, § 1 KSchG, Rz. 695.
[9] Vgl. dazu KR/Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2016, § 1 KSchG, Rz. 703d ff.; Gaul/Lunk, NZA 2004, S. 184, 186.

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