Rz. 842

Die soziale Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers nimmt mit fortschreitendem Alter zu (BAG, Urteil v. 8.8.1985, 2 AZR 464/84[1]). Dies liegt vor allem daran, dass es einem älteren Arbeitnehmer im Allgemeinen nicht nur größere Schwierigkeiten bereitet, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, sondern es ihm regelmäßig auch schwerer fallen wird, sich mit den neuen Arbeitsbedingungen vertraut zu machen. Nichtsdestotrotz ist das Lebensalter kein absoluter Faktor. Im Rahmen der Berücksichtigung des Lebensalters bei der Sozialauswahl müssen vielmehr auch andere Kriterien, u. a. solche, die seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestimmen, einfließen.[2] Dazu gehören u. a. Berufserfahrung und Qualifikation des Arbeitnehmers, sein Gesundheitszustand sowie die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt (BAG, Urteil v. 18.1.1990, 2 AZR 357/89[3]; BAG, Urteil v. 6.9.2007, 2 AZR 387/06[4]). Der Arbeitnehmer ist auch dann sozial weniger schutzwürdig, wenn er bereits eine Regelaltersrente beanspruchen kann, weil ihm in diesem Fall bereits ein Ersatzeinkommen nach dem Verlust des Arbeitsplatzes zur Verfügung steht (BAG, Urteil v. 27.4.2017, 2 AZR 67/16[5]). Anders als bei der Dauer der Betriebszugehörigkeit bedarf es daher bei der Berücksichtigung des Lebensalters immer auch einer einzelfallbezogenen Abwägung, bei der ggf. auch die in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG genannte "ausgewogene Personalstruktur des Betriebs" einbezogen werden kann.[6]

 

Rz. 843

Europäisches Recht steht der Berücksichtigung des Faktors "Lebensalter" bei der Sozialauswahl nicht entgegen. Der europäische Gesetzgeber hat in Art. 2 Nr. 2a der Richtlinie 2000/78/EG das Verbot der unmittelbaren Diskriminierung aufgrund des Alters normiert. Eine Diskriminierung liegt gem. Art. 6 der Richtlinie jedoch nicht vor, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Aufgrund der genannten Nachteile, die ein älterer Arbeitnehmer gegenüber einem jüngeren bei der Arbeitssuche und auch im Rahmen der Einarbeitung an einem neuen Arbeitsplatz hat, ist die Privilegierung der älteren Arbeitnehmer durch den Gesetzgeber durchaus nachvollziehbar. Das arbeitsmarktpolitische Ziel, ältere Arbeitnehmer in Lohn und Brot zu halten, rechtfertigt insofern die Benachteiligung jüngerer Arbeitnehmer bei der Sozialauswahl.[7] Inzwischen hat auch das BAG entschieden, dass die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG normierten Vorgaben zur Berücksichtigung des Lebensalters bei der Sozialauswahl sowie die in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG enthaltene Möglichkeit, die Auswahl zum Zweck der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur innerhalb von Altersgruppen vorzunehmen, nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung i. S. d. Richtlinie 2000/78/EG verstößt (BAG, Urteil v. 15.12.2011, 2 AZR 42/10[8]. Dies hat das BAG erneut bestätigt: So soll auch die Berücksichtigung der Regelaltersrentenberechtigung im Rahmen der Sozialauswahl nicht gegen die Richtlinie 2000/78/EG verstoßen, da der Gesetzgeber insofern rechtmäßige arbeitsmarktpolitische Ziele i. S. v. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie verfolgt (BAG, Urteil v. 27.4.2017, 2 AZR 67/16[9]).

Nach einem Urteil des BAG finden die Diskriminierungsverbote des AGG im Rahmen des Kündigungsschutzes nach dem KSchG Anwendung (s. BAG, Urteil v. 6.11.2008, 2 AZR 523/07[10]). § 2 Abs. 4 AGG steht dem nicht entgegen, da hiermit nur erreicht werden soll, dass neben das Kündigungsschutzrecht eine 2., unabhängige Überprüfung der Kündigung tritt. Die materiellen Vorgaben des AGG sollen also über den Weg der Berücksichtigung in der Sozialwidrigkeit zur Geltung kommen. Das Verbot der Altersdiskriminierung (§§ 1, 10 AGG) steht der Berücksichtigung des Lebensalters im Rahmen der Sozialauswahl nicht entgegen. Die Zuteilung von Sozialpunkten nach dem Lebensalter führt mit hinnehmbarer Unschärfe zur Berücksichtigung von Chancen auf dem Arbeitsmarkt und im Zusammenspiel mit den übrigen sozialen Gesichtspunkten nicht zu einer Überbewertung des Lebensalters, sodass zwar eine unterschiedliche Behandlung vorliegt, diese aber gerechtfertigt werden kann.

[1] NZA 1986 S. 679.
[2] SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1084.
[3] NZA 1990 S. 729.
[4] NZA 2008 S. 405.
[5] BB 2017 S. 2109.
[6] Vgl. hierzu auch die Rz. 885 und 888.
[7] Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, S. 1234; s. auch SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1085; Löwisch, BB 2004, S. 154, 155; zu der Frage, ob sich die Rechtslage im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geändert hat, vgl. die Kommentierung Thüsing, Arbeitsrechtlicher Diskriminierungsschutz, 2. Aufl. 2013, Rz. 455 ff.
[8] NZA 2012 S. 1044.
[9] BB 2017 S. 2109.

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