Rz. 770

Nach Ausspruch der Kündigung kann sich herausstellen, dass die die Kündigung rechtfertigende Zukunftsprognose zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung hinsichtlich des Beschäftigungsbedarfs unrichtig war. Da es für die Wirksamkeit der Kündigung nur auf den Zeitpunkt der Kündigungserklärung ankommt[1], kann die geänderte Beschäftigungssituation die Rechtfertigung der Kündigung nicht mehr infrage stellen. Diskutiert wird in diesen Fällen jedoch, ob der Arbeitnehmer – unabhängig von speziell geregelten vertraglichen oder tarifvertraglichen Ansprüchen – einen Anspruch auf Wiedereinstellung hat.

 

Beispiel

Ein Werbeunternehmen verliert zahlreiche Daueraufträge und kann auch nicht absehen, dass in naher Zukunft neue Kunden geworben werden können. Vor diesem Hintergrund werden betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen. Noch während der laufenden Kündigungsfristen erhält das Unternehmen überraschend einen Großauftrag mit einem erheblichen Werbevolumen. In der Praxis werden in diesen Fällen Kündigungen häufig einvernehmlich zurückgenommen, da beide Vertragspartner (wieder) ein Interesse an der Weiterbeschäftigung haben. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der von einer Kündigung betroffene Arbeitnehmer eine Wiedereinstellung auch gerichtlich durchsetzen könnte.

[1] Vgl. Rz. 657.

4.5.1 Anspruchsvoraussetzungen

 

Rz. 771

Nach der Rechtsprechung und der überwiegend in der Literatur vertretenen Ansicht ist der Arbeitgeber regelmäßig zur Wiedereinstellung entlassener, dem Kündigungsschutzgesetz unterfallender Arbeitnehmer verpflichtet, wenn sich noch während der Kündigungsfrist unvorhergesehen eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit ergibt, der Arbeitgeber mit Rücksicht auf die wirksame Kündigung noch keine Dispositionen getroffen hat und der Wiedereinstellung keine berechtigten Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen (BAG, Urteil v. 26.1.2017, 2 AZR 61/16[1]).

 

Rz. 772

Dogmatisch lässt sich ein solcher Anspruch unterschiedlich begründen: So wird auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers[2], das Verbot des venire contra factum proprium[3], den Grundsatz des Vertrauensschutzes[4] oder auch eine systemimmanente Rechtsfortbildung[5] abgestellt. Das BAG hat zuletzt überzeugend den Kontrahierungszwang des Arbeitgebers aus einer vertraglichen Nebenpflicht aus dem noch fortbestehenden Arbeitsverhältnis abgeleitet (BAG, Urteil v. 13.5.2004, 8 AZR 198/03[6]). Zu den letztlich auf § 242 BGB beruhenden arbeitsvertraglichen Nebenpflichten gehört auch die Pflicht, auf die berechtigten Interessen des Vertragspartners Rücksicht zu nehmen. Das berechtigte Interesse des Arbeitnehmers an dem Erhalt seines Arbeitsplatzes ist durch Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur bis zum Ausspruch einer Kündigung, sondern auch noch danach bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschützt. Zwar wird der dem Staat obliegenden grundrechtlichen Schutzpflicht grds. durch das Kündigungsschutzgesetz hinreichend Rechnung getragen. Durch die Vorverlagerung des maßgeblichen Prüfungszeitpunkts vom Ende des Arbeitsverhältnisses auf den häufig viele Monate früher liegenden und nicht nur von der Dauer der Kündigungsfrist, sondern auch vom Willensentschluss des Arbeitgebers abhängigen Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung entsteht jedoch ein Bedürfnis nach einem Korrektiv in den Fällen, in denen sich die maßgeblichen Umstände entgegen der ursprünglichen Prognose nachträglich ändern.

 

Rz. 773

Ein Wiedereinstellungsanspruch auf der Grundlage des vertraglichen Bestandsschutzes ist insofern auch dann anzunehmen, wenn ein anderer Arbeitsplatz unvorhergesehen frei oder geschaffen wird, auf dem der Arbeitnehmer ohne Änderung seines Vertrags beschäftigt werden kann (BAG, Urteil v. 28.6.2000, 7 AZR 904/98[7]). Denn auch eine solche Beschäftigungsmöglichkeit im Zeitpunkt der Kündigungserklärung hätte der Wirksamkeit der Kündigung entgegengestanden.

 

Rz. 774

Auf der Grundlage der dargestellten methodischen Begründung kann ein Wiedereinstellungsanspruch grds. abgelehnt werden, wenn sich die maßgeblichen Umstände erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ändern (BAG, Urteil v. 26.1.2017, 2 AZR 61/16[8]). Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses enden die vertraglichen Interessenwahrungspflichten; die schwächeren nachvertraglichen Pflichten können eine Wiedereinstellung nicht begründen. Nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BAG kommt jedoch eine Durchbrechung der strengen zeitlichen Grenze im Einzelfall dann in Betracht, wenn der Arbeitgeber selbst nach Ablauf der Kündigungsfrist seine Unternehmerentscheidung aufhebt oder ändert (BAG, Urteil v. 4.12.1997, 2 AZR 140/97[9]). Auch der 8. Senat nimmt im Einzelfall einen Wiedereinstellungsanspruch nach Ablauf der Kündigungsfrist gegen den Betriebserwerber für den Fall eines durch willentliche Übernahme der Hauptbelegschaft eingetretenen Betriebsübergangs an (BAG, Urteil v. 12.11.1998, 8 AZR 265/97[10]). Ein solcher Wiedereinstellungsanspruch trägt wohl weniger der vertraglichen Fürsorgepflicht, als vielmehr dem Gedanken des Bestandsschutzes Rechnung, wenn allein vom...

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