Rz. 582

Wie im Rahmen jeder Kündigung ist auch bei der krankheitsbedingten Kündigung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, d. h., danach zu fragen, ob sie durch andere, mildere Mittel vermieden werden kann. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung auf einem anderem, dem Gesundheitszustand des Arbeitnehmers entsprechenden Arbeitsplatz sein. Es kann sich auch die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, wenn dadurch künftige Fehlzeiten ausgeschlossen oder signifikant verringert werden könnten (BAG, Urteil v. 18.11.2011, 2 AZR 138/21[1]).

 

Rz. 583

Hierbei ist auch von Bedeutung, ob der Arbeitgeber ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) (§ 167 Abs. 2 SGB IX) durchgeführt hat. Eine Pflicht hierzu besteht dann, wenn innerhalb eines Jahres Arbeitsunfähigkeit von mehr als 6 Wochen, ununterbrochen oder wiederholt, vorliegt. Das Erfordernis eines BEM gilt für alle Arbeitnehmer und nicht nur für schwerbehinderten Menschen, denn in § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist von Beschäftigten und von schwerbehinderten Menschen die Rede. Krankheitsbedingte Kündigungen sollen bei allen Arbeitnehmern und nicht nur bei schwerbehinderten Menschen durch das BEM verhindert werden (BAG, Urteil v. 23.4.2008, 2 AZR 1012/06[2]). Außerdem ist ein BEM auch dann durchzuführen, wenn keine Interessenvertretung nach § 176 SGB IX existiert (BAG, Urteil v. 21.11.2018, 7 AZR 394/17[3]). Die in § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX genannte Jahresfrist ist nicht auf das Kalenderjahr beschränkt. Vielmehr ist ab Beginn des ersten maßgeblichen Arbeitsunfähigkeitszeitraums an zu rechnen. Erkrankt der Arbeitnehmer nach Abschluss eines BEM erneut arbeitsunfähig innerhalb eines Jahres für mehr als 6 Wochen, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, erneut ein BEM durchzuführen. Diese Verpflichtung gilt auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten BEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist (BAG, Urteil v. 18.11.2021, 2 AZR 138/21[4]).

 

Rz. 584

Zwar ist die Durchführung eines BEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung, jedoch können mithilfe des BEM mildere Mittel als die Kündigung gefunden oder entwickelt werden. Deshalb ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht bereits durch eine Nichtdurchführung des BEM, sondern erst dann verletzt, wenn überhaupt Möglichkeiten zu einer Weiterbeschäftigung bestanden hätten (BAG, Urteil v. 10.12.2009, 2 AZR 400/08[5]).

 

Rz. 585

Inhaltliche Anforderungen an ein BEM werden in § 167 Abs. 2 SGB IX ebenso wenig vorgegeben, wie konkrete Verfahrensschritte. Benannt werden lediglich die zu beteiligenden Personen und Stellen, wobei der Gesetzeswortlaut dem Arbeitgeber die Initiativlast auferlegt (BAG, Urteil v. 20.11.2014, 2 AZR 755/13[6]). Die Nichtvorgabe konkreter Inhalte und eines formalisierten Verfahrens sollen den Beteiligten weiten Spielraum zu allen vernünftigerweise in Betracht kommenden Lösungsmöglichkeiten eröffnen (BAG, Urteil v. 10.12.2009, 2 AZR 198/09[7]). Die erforderliche Initiative ergreift der Arbeitgeber nur dann, wenn er den Arbeitnehmer nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des BEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hingewiesen hat (BAG, Urteil v. 13.5.2015, 2 AZR 565/14[8]). Eine bloße Bezugnahme auf die Regelung des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX genügt inhaltlich nicht. Der Arbeitgeber muss verdeutlichen, dass es um die Grundlagen der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers geht und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch der Arbeitnehmer Vorschläge einbringen kann (BAG, Urteil v. 20.11.2014, 2 AZR 755/13[9]).

Zur Durchführung eines BEM bedarf es der Zustimmung des Arbeitnehmers. Verweigert der Arbeitnehmer die Zustimmung, nachdem ihm ein BEM ordnungsgemäß angeboten worden ist, kann von der Aussichtslosigkeit des BEM ausgegangen und von seiner Durchführung abgesehen werden. Dann ist das Unterlassen des BEM "kündigungsneutral" (BAG, Urteil v. 13.5.2015, 2 AZR 565/14[10]).

 

Rz. 586

Unerheblich ist, ob im Betrieb ein Betriebsrat gewählt und/oder eine Schwerbehindertenvertretung eingerichtet ist (BAG, Urteil v. 30.9.2010, 2 AZR 88/09[11]). Zu beachten ist, dass ein unterlassenes BEM nicht zur Rechtsunwirksamkeit einer Kündigung führt, wenn das KSchG auf das Arbeitsverhältnis keine Anwendung findet. Außerhalb der Anwendbarkeit des KSchG ist ein BEM nicht erforderlich, da dessen Regelungen Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind, der aus dem KSchG herrührt (BAG, Urteil v. 28.6.2007, 6 AZR 750/06[12]). Dies zeigt sich auch daran, dass § 167 Abs. 2 SGB IX mit dem Erfordernis einer 6-wöchigen Arbeitsunfähigkeit an die vom BAG entwickelten Voraussetzungen der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung anknüpft (BAG, Urteil v. 22.10.2015, 2 AZR 720/14[13]).

 

Rz. 587

Da der Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast fü...

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