Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang der Beratungspflicht des Sozialleistungsträgers zur Begründung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs

 

Orientierungssatz

1. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger eine ihm obliegende Pflicht, insbesondere zur Auskunft und Beratung verletzt und dem Betroffenen dadurch einen rechtlichen Nachteil zugefügt hat. Durch die Vornahme einer Amtshandlung des Trägers muss ein Zustand hergestellt werden können, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht erfolgt wäre (BSG Urteil vom 27. Juni 2012, B 12 KR 11710 R).

2. Die Spontanberatungspflicht des Sozialleistungsträgers hat nicht zum Inhalt, den Bürger auf alle rechtlich nicht verbotenen Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Die Verwaltung muss nicht darauf hinwirken, dass der Bürger innerhalb des sozialen Leistungssystems das jeweils wirtschaftlich Optimale erreicht.

 

Normenkette

SGB I §§ 14-15; BVG § 10 Abs. 2, 7 S. 1; SGB V §§ 191, 175 Abs. 4

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung von Beitragsbescheiden und die Rückerstattung von Beiträgen zur freiwilligen Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung.

Bei dem 1961 geborenen Kläger wurden nach einer Kinderlähmungs-Schluckimpfung am 15. März 1963 Lähmungserscheinungen und Krampfanfälle beobachtet. Das Versorgungsamt Hannover gewährte ihm mit Bescheid vom 1. Oktober 1996 ab dem 1. August 1989 eine Beschädigtenversorgung nach dem (damaligen) Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Anerkannt wurden ein hirnorganisches Anfallleiden durch schädigende Einwirkungen im Sinne von §§ 51, 52 BSeuchG.

Der Kläger war bis zum 23. Juni 2004 als abhängig Beschäftigter bzw. Arbeitslosengeldbezieher bei der Beklagten zu 1) pflichtkrankenversichert. Am 24. Juni 2004 wurde er freiwilliges Mitglied.

Mit Schreiben vom 8. Juli 2004 teilte er dem Versorgungsamt Hannover mit, dass sein Arbeitslosengeldanspruch mittlerweile erloschen sei. Aufgrund der bestehenden Versorgungsrente sei eine Beantragung von Arbeitslosenhilfe aussichtslos. Die Kranken- und Pflegeversicherungskosten würden nicht mehr durch das Arbeitsamt getragen.

Das Versorgungsamt Hannover erließ am 6. Dezember 2004 einen Bescheid, in dem festgestellt wurde, dass der Kläger für die mit Bescheid vom 1. Oktober 1996 anerkannten Schädigungsfolgen Anspruch auf Leistungen der Heilbehandlung nach § 10 Abs. 1 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges - Bundesversorgungsgesetz (BVG) habe. Als Berechtigter erhalte er die Heilbehandlung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem BVG als kostenfreie Sachleistung. Eine Heilbehandlung für schädigungsunabhängige Gesundheitsstörungen sei ausgeschlossen, wenn und solange die Beklagte zu 1) zu einer entsprechenden Leistung verpflichtet sei. In Fettschrift heißt es weiter in dem Bescheid:

“Bitte teilen Sie uns Änderungen der Krankenkassen-Mitgliedschaft rechtzeitig mit, damit Ihnen nach einem Kassenwechsel keine Nachteile bei der Heilbehandlung entstehen. Das gleiche gilt bei einer Kündigung einer freiwilligen Krankenversicherung, damit wir Sie ggf. der Allgemeinen Ortskrankenkasse Ihres Wohnortes zuteilen können„. Beigefügt war dem Bescheid unter anderem ein “Merkblatt über die Heilbehandlung und die Krankenbehandlung nach dem Recht der sozialen Entschädigung (Bundesversorgungsgesetz - BVG) für Kriegs- und Wehrdienstopfer, Impfgeschädigte, Opfer von Gewalttaten und anderer Personengruppen, auf die das BVG anzuwenden ist„.

Das Versorgungsamt Hannover übersandte den Bescheid auch an die Beklagte zu 1) (Eingang dort: 8. Dezember 2004).

(Erst) mit Schreiben vom 16. November 2011 erklärte der Kläger gegenüber der Beklagten zu 1) die Kündigung der freiwilligen Mitgliedschaft zum nächstmöglichen Zeitpunkt. Die Mitgliedschaft wurde zum 31. Oktober 2011 beendet.

Am 30. Oktober 2012 stellte er zudem einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Zur Begründung trug er unter anderem vor, die Beklagte zu 1) hätte ihn unter Verstoß gegen die §§ 14 bis 16 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) nicht auf die Möglichkeit hingewiesen, durch Kündigung der freiwilligen Mitgliedschaft den Anspruch auf Heilbehandlung gemäß § 10 Abs. 2 BVG zu realisieren. Deshalb sei die freiwillige Mitgliedschaft bis zum 31. Oktober 2011 fortgeführt worden mit der Folge der Beitragszahlung. Wäre die Beklagte zu 1) ihrer Aufklärungs- und Hinweispflicht nachgekommen und hätte sie ihm den anlässlich des Schreibens des Versorgungsamtes vom 6. Dezember 2004 gebotenen Rat erteilt, die freiwillige Mitgliedschaft bei ihr zu beenden, so wäre dies bereits zu Beginn des Jahres 2005 erfolgt. Entsprechende Beiträge wären nicht mehr angefallen. Im Ergebnis seien die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab dem 1. Januar 2005 zu Unrecht erhoben worden.

Die Beklagte zu 1) wies den Antrag mit Bescheid vom 9. Januar 2013...

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