Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Erschütterung des Beweiswerts einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers Tatsachen vorhanden sind, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen. Erbringen Arbeitnehmer beispielsweise anderweitig Arbeitsleistungen, die sie ebenso gut bei dem eigenen Arbeitgeber ausführen könnten, kann sich daraus ein Anzeichen für eine tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit ergeben.

2. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist aber nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.

2. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers Tatsachen vorhanden sind, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen.

 

Normenkette

EFZG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 S. 2, § 4 Abs. 1; SGB V § 275 Abs. 1a

 

Verfahrensgang

ArbG Schwerin (Entscheidung vom 14.12.2022; Aktenzeichen 4 Ca 679/22)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 14.12.2022 - 4 Ca 679/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, insbesondere die Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, sowie über Urlaubsabgeltung.

Der im April 1978 geborene Kläger nahm am 27.01.2020 bei der Beklagten eine Vollzeitbeschäftigung als Dozent in der Erwachsenenbildung mit einem Monatsgehalt von € 3.600,00 brutto auf. Seine Aufgabe bestand insbesondere darin, Fachkräfte für Lagerlogistik bzw. Fachlageristen auszubilden. Zeitweise war er als Sicherheitsbeauftragter eingesetzt. Die Parteien vereinbarten einen gesetzlichen (Mindest-)Jahresurlaub von 20 Tagen bei einer Fünf-Tage-Woche sowie einen Zusatzurlaub von fünf Tagen. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig zwischen 30 und 36 Mitarbeiter.

Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Im Jahr 2019 hatte er sich einer psychosomatischen Reha-Maßnahme unterzogen.

Mit Vereinbarung vom 17.12.2020 überließ die Beklagte dem Kläger ein dienstliches Mobiltelefon einschließlich Zubehör. Zum 01.06.2021 erhöhte sie das Monatsgehalt des Klägers auf € 3.800,00 brutto.

Der Kläger erkrankte mehrfach arbeitsunfähig und befand sich zeitweise in Quarantäne:

Zeitraum

Arbeitstage

Krankheitsbild

ICD-10-Code

06.08. - 03.09.2021

21

23.11. - 26.11.2021

4

Akute Infektion der oberen Atemwege

J06.9 G

03.12. - 08.12.2021

Quarantäne-Anordnung des Landkreises Ludwigslust-Parchim

28.03. - 14.04.2022

18

Akute Infektion der oberen Atemwege; COVID-19, Virus nachgewiesen

J06.9 G; U07.1 G

Am Freitag, 29.04.2022, gegen 16:15 Uhr, übergab der Kläger dem Geschäftsführer der Beklagten die schriftliche Kündigung zum 31.05.2022. Zugleich überbrachte er dem Geschäftsführer auch das Kündigungsschreiben der Kollegin H.. Gegen 19:00 Uhr desselben Tages suchte die Abteilungsleiterin M. den Kläger zu Hause auf und forderte die Rückgabe des ihm überlassenen Laptops nebst Maus, Ladekabel und Headset, des iPads nebst Tastatur und Stift, einer Computertasche und der vier Schlüssel (Hoftor, Büro, Wintergarten, Zwischentür). Das Ladekabel des iPads sowie das Diensttelefon nebst Ladegerät befand sich laut Rückgabeprotokoll im Schreibtisch des Klägers bei der Beklagten.

Am Montag, 02.05.2022, suchte der Kläger seine Hausärztin auf, die ihm eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 13.05.2022 ausstellte. Der Kläger hätte am 02.05.2022 die Aufgabe gehabt, Klausuren zu korrigieren. Am darauf folgenden Tag stand eine Prüfung der Teilnehmergruppe Lagerlogistik Modul 1 auf dem Plan. Am Mittwoch, 04.05.2022, begann ein neuer Kurs. Die Hausärztin bescheinigte dem Kläger am 13.05.2022 eine bis voraussichtlich 31.05.2022 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit und stellte ihm eine entsprechende Folgebescheinigung aus. Laut ärztlichem Attest vom 11.07.2023 beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem psychosomatischen Beschwerdekomplex und den Diagnosen F45.9 G (somatoforme Störung) und F48.0 G (Neurasthenie). Am 01.06.2022 trat der Kläger ei...

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