Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsratsanhörung. Grob fehlerhafte Sozialauswahl

 

Leitsatz (amtlich)

Im Rahmen der Anhörung nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG sind dem Betriebsrat auch die Gründe für die Herausnahme aus der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG mitzuteilen. Durch die Unterzeichnung einer Namensliste durch die Betriebsparteien nach § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 S. 1 InsO wird insoweit nicht die Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung indiziert.

Das vorsätzliche Abweichen von Auswahlrichtlinien nach § 95 Abs. 1 S. 1 BetrVG führt unabhängig davon, ob die Abweichung nur „marginal” ist, zur groben Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl i.S.v. § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 5; BetrVG § 102

 

Verfahrensgang

ArbG Hagen (Westfalen) (Urteil vom 02.11.2010; Aktenzeichen 1 Ca 1617/10)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 02.11.2010 – 1 Ca 1617/10 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung und den Anspruch auf Weiterbeschäftigung.

Von der Darstellung des Vorbringens der Parteien in der ersten Instanz wird nach §69 Abs. 2 ArbGG unter Bezugnahme auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 75 – 80 d. A.) abgesehen.

Das Arbeitsgericht Hagen hat der Klage mit Urteil vom 02.11.2010 – 1 Ca 1617/10 – stattgegeben. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen (Bl. 80 – 89 d. A.).

Das Urteil ist der Beklagten am 11.11.2010 zugestellt worden. Hiergegen richtet sich die am 23.11.2010 eingelegte und mit dem am 10.01.2011 bei dem Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung.

Die Beklagte wendet sich unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags zur Sach- und Rechtslage gegen das erstinstanzliche Urteil. Sie trägt ergänzend vor:

Durch die Auswahlrichtlinie sei nach dem einheitlichen Verständnis der Betriebsparteien lediglich der Ermessensspielraum eingeschränkt, jedoch nicht völlig beseitigt worden. Die Betriebsparteien hätten im Interessenausgleich und im Verfahren nach §102 Abs. 1 BetrVG – zumindest konkludent – den Restermessensspielraum genutzt und die längere Betriebszugehörigkeit der Mitarbeiter P2 und P1 im Betrieb der Beklagten und auch die Vorbeschäftigungszeit im Betrieb der Firma K1 in zulässiger Weise berücksichtigt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 02.11.2010, 1 Ca 1617/10, zugestellt am 11.11.2010, abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags zur Sach- und Rechtslage. Er trägt ergänzend vor:

Die Betriebsparteien seien an die Auswahlrichtlinie gebunden. Ihnen habe kein Restermessensspielraum zugestanden. Bedenken hinsichtlich der Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung blieben aufrechterhalten. Die Beklagte könne sich nicht auf den zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Betriebsrat abgeschlossenen Interessenausgleich berufen. Sie sei nicht Partei dieser Vereinbarung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf den von ihnen in Bezug genommenen Inhalt der in beiden Rechtszügen zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist an sich statthaft (§ 64 Abs. 1 ArbGG), bereits wegen eines der Streitgegenstände zulässig (§ 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG) sowie in gesetzlicher Form und Frist eingelegt (§ 519 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, § 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) und innerhalb der Frist (§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) und auch ordnungsgemäß (§ 520 Abs. 3 i.V.m. § 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG) begründet worden. Sie hat in der Sache keinen Erfolg.

I. Die Kündigungsschutzklage ist begründet.

1. Die Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.

1.1. Nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam. Eine Kündigung ist nicht nur unwirksam, wenn der Arbeitgeber gekündigt hat, ohne den Betriebsrat überhaupt zu beteiligen, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt hat (BAG 27.11.2003 – 2 AZR 653/02).

1.2. Die Erstellung eines Interessenausgleichs mit Namensliste nach §§ 1 Abs. 5 KSchG, 112 BetrVG bzw. § 125 Abs. 1 InsO entbindet den Arbeitgeber nicht von der Pflicht zur Betriebsratsanhörung zu den konkret auszusprechenden Kündigungen nach § 102 BetrVG (BAG 20.05.1999 – 2 AZR 148/99). Der Regelungszweck des §102 BetrVG unterscheidet sich von dem des § 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 Abs. 1 InsO. Letzterer dient u.a. dazu, Wachstumsdynamik und eine beschäftigungs- und sanierungsfreundliche Flexibilisierung des Arbeitsrechts zu ermöglichen. Die nach §102 BetrVG vorgeschriebene Mitwirkung des Betriebsrats soll den Arbeitgeber demgegenüber veranlassen, die geplante Kündigung als Individualmaßnahme zu überdenken...

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