Entscheidungsstichwort (Thema)

Interessenausgleich und Namensliste. Grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl. Vorsätzliche Abweichung von einer Auswahlrichtlinie i.S.v. § 95 BetrVG. Grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die vorsätzliche Abweichung von einer Auswahlrichtlinie i.S.v. § 95 BetrVG, die die Bewertung der sozialen Auswahlkriterien verbindlich regelt, führt als ein vorsätzlicher Rechtsverstoß unabhängig davon, ob die Abweichung nur „marginal” ist, stets zur groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl i.S.v. § 125 InsO.

2. Die Zustimmung des Betriebsrats zum Interessenausgleich und Namensliste ändert an der groben Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl nichts, weil der Betriebsrat selbst nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG darüber zu wachen hat, dass bestehende Betriebsvereinbarungen eingehalten werden und nach § 75 BetrVG auch darüber, dass alle Arbeitnehmer nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit behandelt werden, was auch eigenes rechtsnormkonformes Verhalten beinhaltet.

 

Normenkette

BetrVG § 95; InsO § 125

 

Verfahrensgang

ArbG Hagen (Westfalen) (Urteil vom 30.09.2010; Aktenzeichen 4 Ca 415/10)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 24.10.2013; Aktenzeichen 6 AZR 854/11)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hagen vom 30.09.2010 – 4 Ca 415/10 – wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses.

Der Beklagte wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 02.12.2009 – Aktenzeichen 100 IN 172/09 – zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Firma T1 Presswerk GmbH & Co. KG (im folgenden: Insolvenzschuldnerin) bestellt. Bereits unter dem 06.10.2009 wurde der Beklagte durch Beschluss des Amtsgerichts Hagen im Rahmen des Insolvenzeröffnungsverfahrens zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt.

Der am 24.06.1970 geborene, ledige Kläger war seit dem 05.11.1998 als Werkzeugmechaniker bei der Insolvenzschuldnerin zu einem monatlichen Bruttogehalt von zuletzt rund 3.000,– Euro auf der Basis des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 21.10.1998 sowie der Zusatzvereinbarung vom 08.04.2004 beschäftigt. Wegen der Einzelheiten des schriftlichen Arbeitsvertrages sowie der Zusatzvereinbarung wird auf Blatt 6 bis 9 der Gerichtsakte Bezug genommen.

Bereits im Rahmen des Insolvenzeröffnungsverfahrens bemühte sich der Beklagte um eine Betriebsveräußerung und reduzierte den Personalbestand, indem er insbesondere befristete Arbeitsverträge nicht verlängerte.

Am 28.01.2010 fand in den Räumlichkeiten des Beklagten eine Besprechung mit dem Betriebsratsvorsitzenden S1 und der stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden H1 statt, an den für den Betriebsrat auch Herr R2 von der IG Metall und für den Beklagten Herr Rechtsanwalt Dr. K2 sowie Frau Rechtsanwältin M2-O1 teilnahmen. Außerdem war bei dieser Besprechung ein Vertreter einer interessierten Betriebserwerberin anwesend. Im Rahmen dieses Gesprächs wurde der erforderliche Personalabbau erörtert und dem Betriebsrat eine Personalliste mit sämtlichen Sozialdaten unter Schilderung der Hintergründe für die geplante Betriebsänderung überreicht.

Am 03.02.2010 fand eine weitere Besprechung mit dem Betriebsrat der Insolvenzschuldnerin statt, nachdem zuvor der Beklagte per E-Mail dem Betriebsrat eine Gesamtpersonalliste des Standortes H2 sowie ein Muster zum Interessen- und Sozialplan unter Hinweis auf die Aufnahme der Verhandlung zum Interessenausgleich und Sozialplan übermittelte. Nach weiteren Besprechungen schlossen der Beklagte und der Betriebsrat unter dem 10.02.2010 einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan. In dem Interessenausgleich wird insbesondere unter dem Punkt II darauf hingewiesen, dass wegen des erheblichen Umsatzrückgangs lediglich ein Beschäftigungsbedarf für 460 Arbeitsplätze am Standort H2 bestehe, so dass 48 betriebsbedingte Kündigung erforderlich seien, um die notwendige Kostenreduzierung zu erreichen, die Voraussetzung für die geplante Betriebsveräußerung war. Außerdem vereinbarten der Beklagte und der Betriebsrat unter II.2 des Interessenausgleichs eine Liste mit Namen von zu kündigenden Beschäftigten, die im Interessenausgleich ausdrücklich als „Namensliste im Sinne von § 125 InsO” bezeichnet ist. Unter der laufenden Nr. 24 dieser Namensliste befindet sich auch der Name des Klägers. Darüber hinaus enthält der Interessenausgleich eine Vereinbarung über eine Auswahlrichtlinie, die folgenden Wortlaut hat:

Die Parteien haben nachstehende Auswahlrichtlinie gem. § 1 Abs. 4 KSchG i. V. m. § 95 BetrVG vereinbart, nach der die sozialen Gesichtspunkte bei der Auswahl von Mitarbeitern zu den beabsichtigen Kündigungen zu werten sind:

Lebensalter

Für jedes vollendete Lebensjahr 1 Punkt

Maximal 55 Punkte

Betriebszugehörigkeit

Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit 1 Punkt

Für jedes vollendete Jahr der Betriebszugehörigkeit ab

dem 11. Beschäftigungsjahr 2 Punkte

Maximal 70 Punkte

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