Entscheidungsstichwort (Thema)

Unbeachtlichkeit der Zweckdienlichkeit der Soll-Angaben in Massenentlassungsanzeige. Richtlinienkonforme Auslegung des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Unwirksamkeit der Kündigung bei fehlerhafter Massenentlassungsanzeige. Fortbestehende Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige bei fehlendem Hinweis der Agentur für Arbeit

 

Leitsatz (amtlich)

Enthält bei einer nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigepflichtigen Entlassung die Anzeige gegenüber der Agentur für Arbeit nicht die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben (sog. „Soll-Angaben“) und werden diese nicht vor Zugang der Kündigung gegenüber der Agentur für Arbeit nachgeholt, führt dies zur Unwirksamkeit der Kündigung gemäß § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB.

Dies ergibt die richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift. Art. 3 Abs. 1 Unterabsatz 3 MERL verlangt die Mitteilung aller zweckdienlichen Angaben. Hierzu gehören auch die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer (BAG 14. Mai 2020 -6 AZR 235/19- NZA 2020, 1092). Die MERL unterscheidet dabei nicht zwischen solchen Angaben, die auf jeden Fall erfolgen müssen und solchen, die zwar zweckdienlich, aber gleichwohl verzichtbar sind (BAG 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19 – BAGE 169, 362).

§ 17 Abs. 3 S. 5 KSchG ist einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich; eine solche ist mit dem Wortlaut, der Gesetzessystematik sowie mit dem aus der Entstehungsgeschichte ersichtlichen Willen des Gesetzgebers vereinbar.

 

Normenkette

KSchG § 17 Abs. 1, 3, § 7; ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 1; BGB § 613a

 

Verfahrensgang

ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 16.09.2020; Aktenzeichen 11 Ca 4532/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 19.05.2022; Aktenzeichen 2 AZR 424/21)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten zu 1) gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 16. September 2020 – 11 Ca 4532/19 – wird zurückgewiesen.

Von den Gerichtskosten hat die Klägerin 57 % und die Beklagte zu 1) 43 % zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Berufung der Klägerin hat die Beklagte zu 1) zu 43 % zu tragen. Die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2) und 3) der Berufung hat die Klägerin voll zu tragen, die der Beklagten zu 1) zu 39 %. Im Übrigen tragen die Parteien ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz zuletzt noch um die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung der Beklagten zu 1) (künftig: Beklagte). Erstinstanzlich hat die Klägerin noch zwei weitere Unternehmen unter dem Gesichtspunkt des § 613a BGB verklagt und ist insoweit unterlegen.

Die gegen die Beklagte zu 2) und zu 3) zunächst eingelegte Berufung hat die Klägerin zurückgenommen.

Die Klägerin war bei der Beklagten aufgrund schriftlichen mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossenen Arbeitsvertrags (von der Klägerin nur in englischer Sprache zur Akte gereicht, Bl. 42 der Akte) seit dem 1. April 1998 zuletzt als Mitarbeiterin im Processing mit einem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von € 4582,50 tätig.

Die Beklagte beschäftigte regelmäßig 21 Mitarbeiter am Standort Kronberg sowie weitere Mitarbeiter an anderen Standorten sowie im Home Office. Ein Betriebsrat besteht nicht.

In der Zeit vom 18. Juni 2019 bis zum 18. Juli 2019 kündigte die Beklagte insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse. Die verbleibenden Arbeitsverhältnisse wurden durch sie jeweils unter Beachtung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist gekündigt.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 31. Januar 2020 (Bl. 9 ff. der Akte). Die deutsche Version des Schreibens trägt das Datum 18. Juni 2019, in der englischen Version des gleichen Schriftstücks ist handschriftlich der 19. Juni 2020 als Ausstellungsdatum aufgeführt. Die Kündigung ist der Klägerin am 19. Juni 2019 zugegangen.

Die Beklagte hat der Klägerin gegenüber am 25. September 2020 eine weitere ordentliche Kündigung zum 30. April 2021 ausgesprochen, das Verfahren betreffend die von der Klägerin hiergegen vor dem Arbeitsgericht Frankfurt erhobene Kündigungsschutzklage ist ausgesetzt.

Mit Schreiben vom 19. Juli 2019 (Bl. 194 ff. der Akte) hat die Beklagte der Agentur für Arbeit Bad Homburg die Anlage zu Feld 34 der Entlassungsanzeige übersendet, die bei dieser – wie zuletzt unstreitig – am 23. Juli 2019 eingegangen ist.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die ausgesprochene Kündigung sei unwirksam und insoweit unter anderem die Verletzung von § 17 KSchG gerügt.

Die Beklagte hat eine Massenentlassungsanzeige vom 17. Juni 2019 zur Akte gereicht (Bl. 87 ff. der Akte) und insoweit behauptet, diese sei der Agentur für Arbeit Bad Homburg am 18. Juni 2019 um 9:17 Uhr zugegangen. Wegen des Inhalts des Schreibens wird auf Bl. 87 ff. der Akte Bezug genommen. Weiterhin hat sie ein Schreiben der Agentur für Arbeit Bad Homburg vom 18. Juni 2019 zur Akte gereicht (Bl. 93 der Akte), indem diese bestätigt, dass die Entlas...

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