Orientierungssatz

Zulässigkeit des Rentenverzichts - Verjährungseinrede bei Neufeststellung nach RVO § 627:

1. Auch ein zeitlich unbegrenzter unwiderrufbarer Verzicht auf Verletztenrente ist nicht stets unzulässig. Die vielmehr entscheidende Frage ist, ob der zeitlich unbegrenzte und unwiderrufbare Verzicht auf Rentenleistungen den Kläger benachteiligt hat. Dies ist nach der Sachlage im Zeitpunkt der Verzichterklärung zu beurteilen. Insbesondere ist nicht die erst durch das UVNG eingetretene Dynamisierung der Rente nachträglich zur Beantwortung dieser Frage heranzuziehen.

2. Bei der Neufeststellung einer Rente nach RVO § 627 ist die Berücksichtigung der Verjährung nicht grundsätzlich ausgeschlossen (vgl BSG 1973-07-26 8/2 RU 68/71).

3. Die Einrede der Verjährung verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben, wenn der Versicherungsträger lediglich insoweit mit zu dem Eintritt der Verjährung beigetragen hat, als er den Verzicht des Versicherten auf Rentenleistungen rechtsirrtümlich als zulässig angesehen hat.

 

Normenkette

RVO § 627 Fassung: 1963-04-30, § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 07.12.1977; Aktenzeichen L 3 U 67/77)

SG Wiesbaden (Entscheidung vom 12.11.1976; Aktenzeichen S 4 U 100/74)

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1977 wird dahin geändert, daß die Beklagte zur Zahlung der Verletztenrente ab 1. Juni 1969 verurteilt wird und dem Kläger die Hälfte der Kosten aller Rechtszüge zu erstatten hat.

 

Tatbestand

Der am 7. Februar 1909 geborene Kläger erlitt am 9. Januar 1948 einen Arbeitsunfall. Er wurde bei einer Fahrt mit einem Motorrad von einem Lastkraftwagen angefahren, den ein Mitglied der amerikanischen Besatzungsmacht steuerte.

Die Beklagte zahlte dem Kläger eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH.

Vom amerikanischen Claims Office erhielt der Kläger eine Abfindung zur Abgeltung aller Entschädigungsansprüche wegen des auch als Besatzungsschaden zu wertenden Arbeitsunfalls.

Am 23. Januar 1952 schrieb der Kläger der Beklagten:

"Vom amerikanischen Claims Office habe ich am heutigen Tag meine Abfindung erhalten. Ich bin Lebensmittelkaufmann, meine Frau ist ebenfalls Verkäuferin in einem Feinkostgeschäft. Wir beabsichtigen gemeinsam ein eigenes Geschäft zu gründen. Aus diesem Grunde zahle ich die von Ihnen bisher erhaltenen Beträge zurück und verzichte gleichzeitig ab sofort auf weitere Rentenzahlungen von Ihnen. Diese meine Verzichterklärung bitte ich Ihrerseits als endgültig anzusehen. Ich bitte mir eine Mitteilung zukommen zu lassen, welchen Gesamtbetrag Sie für mich bisher geleistet haben und in welcher Höhe derselbe zurückerstattet werden muß.

Meine Verzichterklärung ist ein Risiko für mich, da wir noch nicht wissen können, wie unser zu gründendes Geschäft einschlägt. Auf der anderen Seite ist es für Sie ein Vorteil, wenn ich auf meine Rente verzichte. Nach der Lebenserwartungstabelle habe ich noch eine Lebenserwartung von 29 Jahren, umgerechnet x DM 90,- monatlich, ergibt DM 31.320,-. Diesen Betrag habe ich bei weitem von dem Claims Office nicht erhalten. Die Auszahlung lief über das Besatzungskostenamt Wiesbaden, Claims-Stelle. Sollten Sie Rückfragen habe, so bitte ich, sich an diese Stelle zu wenden. Für sofortige Erledigung wäre ich Ihnen dankbar".

Die Beklagte entzog durch Bescheid vom 26. März/24. Juni 1952 dem Kläger mit Ablauf des Monats April 1952 die Rente.

Mit Schreiben vom 19. Mai 1973 hat der Arzt Dr. V die Beklagte um Überprüfung, ob dem Kläger die Rente wieder gezahlt werden könne, die wegen einer Rentenüberzahlung eingestellt worden wäre.

In einem an die zuständige Bezirksverwaltung gerichteten Schreiben vom 30. Mai 1973 führte die Hauptverwaltung der Beklagten aus, der Kläger sei vom amerikanischen Claims Office abgefunden worden; er habe deshalb ausdrücklich auf die berufsgenossenschaftliche Entschädigung verzichtet. Sollte die Bezirksverwaltung, so hieß es in diesem Schreiben weiter, "wider Erwarten" den Kläger "in der Zukunft noch entschädigen", bestehe keine Regreßmöglichkeit mehr.

Danach schrieb die Beklagte unter dem 4. Juni 1973 an Dr. V, der Kläger habe sich seinerzeit bereit erklärt, die von der Berufsgenossenschaft für ihn aufgewandten Beträge zurückzuzahlen, und eine Erklärung dahingehend abgegeben, auf eine weitere Rentenzahlung endgültig zu verzichten. Daher sei ihm die Rente mit Ablauf des Monats April 1952 entzogen worden. Bei dieser Sachlage komme die Widergewährung einer Verletztenrente nicht in Betracht.

Nach einer erneuten Überprüfung gewährte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Juni 1974 dem Kläger die Rente "nach Widerruf der Verzichtserklärung" gemäß §§ 622 Abs 1, 623 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wieder, und zwar nach einer MdE um 50 vH.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 12. November 1976 die Klage auf Zahlung einer Rente für die zurückliegende Zeit mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe durch seine Erklärung vom Januar 1952 auf Rentenzahlungen für die Zukunft verzichtet. Der Zahlungsanspruch lebe erst mit dem Zeitpunkt wieder auf, in dem er wieder geltend gemacht werde.

Die gegen den Bescheid vom 27. Juni 1974 gerichtete Klage nahm der Kläger im Berufungsverfahren zurück.

In Ihrem Schriftsatz vom 13. November 1974 hat die Beklagte im Klageverfahren gegen den Bescheid vom 27. Juni 1974 ua auch eine Neufestsetzung gemäß § 627 RVO abgelehnt. Das während des Berufungsverfahrens nachgeholte Widerspruchsverfahren ist ohne Erfolg geblieben.

Nach den Angaben des Klägers betrug die ihm vom Claims Office gezahlte Abfindung 25.000,- DM.

Durch Urteil vom 7. Dezember 1977 hat das Landessozialgericht (LSG) das angefochtene Urteil aufgehoben und den Bescheid der Beklagten vom 26. März 1952 dahin geändert, daß die Beklagte dem Kläger unter Anrechnung ihres Schadensersatzanspruchs nach § 1542 RVO vom 1. Mai 1952 an Verletztenrente nach einer MdE um 50 vH zu zahlen habe. Es hat zur Begründung u.a. ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 627 RVO lägen vor. Der Verzicht des Klägers vom 23. Januar 1952 rechtfertige es nicht, ihm die Verletztenrente vollständig zu entziehen. Sowohl nach geltendem als auch nach dem im Jahre 1952 gültig gewesenen Recht sei ein Verzicht auf Leistungen der Unfallversicherung rechtsunwirksam, soweit er das Stammrecht an sich betreffe. Die Verzichtserklärung des Klägers könne jedoch nur dahin ausgelegt werden, daß sie den gesamten Rentenanspruch, dh das Stammrecht und die einzelnen Auszahlungsansprüche, umfasse. Die Rentenentziehung sei rechtswidrig gewesen, weil der Bescheid insoweit auf einer rechtsunwirksamen Verzichtserklärung beruhe. Dem - anscheinend vom Claims Office falsch beratenen - Kläger falle demgegenüber nicht oder höchstens nur in unerheblichem Maße eine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht bei der Erteilung des Rentenentziehungsbescheides zur Last. Unter diesen überwiegend von der Beklagten zu vertretenden Umständen bedeute es einen Ermessensmißbrauch, die Einrede der Verjährung zu erheben.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Die Verzichtserklärung des Klägers lasse nicht die Deutung zu, daß der Anspruchsgrund zur Diskussion gestellt sein sollte. Die Erklärung, der Verzicht sei als endgültig anzusehen, sei dahin zu verstehen, daß der ausgesprochene Verzicht gelten und keiner weiteren Diskussion mehr unterliegen solle. Auch der Kläger sei vor dem LSG zunächst davon ausgegangen, daß er nicht an einen Verzicht auf Lebenszeit gedacht habe. Selbst wenn man aber seine Verzichtserklärung nicht als eindeutig werten würde, wäre sie gemäß §§ 133, 140 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dahin auszulegen. Die jederzeit widerrufbare Verzichterklärung auf Auszahlung von Leistungen sei der damaligen Rechtslage gemäß gewesen, um den Forderungsübergang nach § 1542 RVO sicherzustellen. Die Gegenüberstellung der seinerzeit genannten Beträge (ca. 25.000,- DM Abfindungssumme; ca. 31.000,- DM Rentenanspruch aus der Unfallversicherung) mache deutlich, daß für den Verletzten kein Grund bestanden habe, unmittelbar einen begrenzten Verzicht auszusprechen. Selbst wenn man der Auffassung des LSG folgen sollte, die Verwaltung hätte erkennen müssen, daß der Bescheid vom 23. März 1952 unrichtig sei und daß sie daher von der Unrechtmäßigkeit hätte überzeugt sein müssen, so sei jedenfalls die Geltendmachung der Verjährungseinrede nicht rechtsmißbräuchlich, da ein pflichtwidriges Verhalten der Verwaltung nicht festgestellt werden könne. Der Kläger habe im Zusammenhang mit seiner Verzichtserklärung zum Ausdruck gebracht, daß er keine weitere Argumentation zu diesem Punkt wünsche.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 12. November 1976 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Auslegung seiner Erklärung vom 23. Januar 1952 könne nur zu dem Ergebnis führen, daß er auf den gesamten Rentenstamm verzichten wollte. Ein solcher Verzicht sei aber unzulässig. Eine entsprechende Deutung seiner Erklärung sei auch der Beklagten möglich. Sie hätte bei ihm genauestens nachforschen müssen, welche Erklärung er eigentlich habe abgeben wollen. Die Einrede der Verjährung sei rechtsmißbräuchlich, wie das LSG zutreffend entschieden habe.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als sich die Beklagte auf die Verjährung beruft.

Der aufgrund des § 627 RVO vorzunehmenden Prüfung, ob die Beklagte durch den Bescheid vom 26. März/24. Juni 1952 die Rentenzahlung an den Kläger zu Unrecht eingestellt hatte, ist die Sach- und Rechtslage zur Zeit der Entziehung der Leistung zugrunde zu legen (BSGE 13, 259, 260; 19, 38, 44; 26, 89, 91; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 606 e).

Nach der Rechtslage im Jahre 1952 wurde auch ohne ausdrückliche Regelung in der RVO ein Verzicht auf künftige Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung für zulässig erachtet, wenn der Versicherte durch die Wirkungen der Verzichterklärung nicht benachteiligt wurde (vgl ua RVA EuM 40, 1; Brackmann aaO S. 246 w; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 2. Aufl, § 558 Anm 6). Dagegen wurde ein Verzicht für die Vergangenheit auch dann nicht für zulässig angesehen, wenn er gleichzeitig unter Erstattung der Verrechnung der bis zum Verzicht empfangenen Rente erfolgte (RVA AN 28, 152; 29, 62; Brackmann aaO).

Der Verzicht auf zukünftige Rentenleistungen war unzulässig, weil er den Kläger benachteiligt hat.

Das LSG hat zutreffend die Erklärung des Klägers vom 23. Januar 1952 nicht nur als einen zwar zeitlich unbeschränkten, jedoch unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs ausgesprochenen Verzicht gewertet. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß nicht bereits aus der Wendung, die Verzichtserklärung sei "als endgültig" anzusehen, auf einen zeitlich unbegrenzten und unwiderrufbaren Verzicht zu schließen ist; denn dies konnte sich nach Satzstellung und Sinnzusammenhang auch auf die Entschließung zum Verzicht selbst beziehen. Der zeitlich unbegrenzte, nicht unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs erklärte Verzicht ergibt sich aber aus dem insoweit klaren Wortlaut der Erklärung des Klägers, er verzichte gleichzeitig ab sofort auf weitere Rentenzahlungen, und vor allem aus dem Hinweis im letzten Absatz seines Schreibens vom 23. Januar 1952, in dem die bis zur durchschnittlichen Lebenserwartung errechneten Leistungen der Berufsgenossenschaft der Abfindungssumme gegenübergestellt wurden. Die Ausführungen des Klägers vor dem LSG stehen dieser Auslegung seiner Willenserklärung nicht entgegen. Entscheidend ist hier, wie die Erklärung des Klägers damals nach ihrem Wortlaut und Sinnzusammenhang auszulegen war. Daß auch die Beklagte die Erklärung des Klägers als einen nicht nur zeitlich begrenzten und frei widerrufbaren Verzicht auslegte, ist sowohl ihrem Vermerk vom 15. Februar 1952 und dem Entziehungsbescheid vom 26. März/24. Juni 1952 als auch ihrem Schreiben an die Bezirksverwaltung vom 30. Mai 1973 und vor allem ihrem Schreiben an Dr. V vom 4. Juni 1973 zu entnehmen.

Auch ein zeitlich unbegrenzter unwiderrufbarer Verzicht ist jedoch entgegen der dem Urteil des Berufungsgerichts zugrunde liegenden Auffassung nicht stets unzulässig, wie auch die Entscheidung des RVA vom 13. August 1936 (aao) zeigt. Die vielmehr auch hier entscheidende Frage ist, ob der zeitlich unbegrenzte und unwiderrufbare Verzicht auf Rentenleistungen den Kläger benachteiligt hat. Dies ist nach der Sachlage im Zeitpunkt der Verzichterklärung zu beurteilen. Insbesondere ist nicht die erst durch das UVNG eingetretene Dynamisierung der Rente nachträglich zur Beantwortung dieser Frage heranzuziehen.

Nach Angaben des Klägers betrug die Abfindung 25.000,- DM. Die Beklagte hatte dem Kläger mit Schreiben vom 6. November 1948 und 20. September 1949 mitgeteilt, die Gesamtaufwendungen aus Anlaß des Arbeitsunfalls würden sich auf 31.790,11 DM belaufen. Die dem Kläger im Zeitpunkt der Verzichterklärung zustehende Rente hätte bei einer Hochrechnung bis zum 70. Lebensjahr des Klägers seit dem Unfall rund 31.000,- DM ergeben. Ob die Differenz zwischen diesen Beträgen und der Abfindung von rund 6.000,- DM bereits eine Benachteiligung des Klägers ergibt, kann dahinstehen.

Die Benachteiligung des Klägers durch den Verzicht ergibt sich - unabhängig davon, wie hoch die Abfindungssumme war - jedenfalls daraus, daß der Kläger das durch den Verzicht erstrebte und der Beklagten aus dem Schreiben vom 23. Januar 1952 eindeutig erkennbare Ziel, die 25.000,- DM Abfindung für den Aufbau seines Geschäftes verwenden zu können, auch ohne den Verzicht voll erreicht hätte, selbst wenn er die Abfindung vornehmlich für die sonst in Zukunft fälligen weiteren laufenden und gemäß § 1542 RVO an sich auf den Unfallversicherungsträger übergehenden Schadensersatzansprüche gegen den Schädiger erhalten hatte. Die Beklagte hätte nicht die gesamte Abfindungssumme sofort herausverlangen können; sie hatte in dieser Höhe noch keine Leistungen erbracht. Allenfalls hätte sie die ihr sonst gemäß § 1542 RVO gegen den Schädiger jeweils zustehenden Schadensersatzansprüche im Hinblick auf die dem Kläger gewährte Abfindung in der Form geltend machen können, daß sie die laufende Rente zum Teil oder auch ganz einstellte, bis die an sich zu zahlenden Rentenleistungen die Abfindungssumme aufgebraucht hätten. Der Kläger hätte also ohne Verzicht denselben Betrag der Abfindungssumme behalten können und wäre selbst bei Einstellung der Rentenzahlungen in voller Höhe noch besser gestellt gewesen als durch den Verzicht; die Beklagte hätte dann die Rente wieder voll auszahlen müssen, wenn die Rentenzahlungen die Abfindungssumme erreicht hätten. Selbst wenn man demnach zugunsten der Beklagten davon ausgeht, daß sie die volle Abfindungssumme in Anspruch nehmen konnte, brachte der Verzicht des Klägers lediglich Nachteile. Diese Nachteile bestanden unabhängig davon, ob die Abfindungssumme größer oder kleiner als 25.000,- DM war.

Es kann dahinstehen, ob, wie die Beklagte meint, eine Umdeutung des Verzichts des Klägers und die Einstellung der Rentenzahlung durch die Beklagte für die Zukunft gem. § 140 BGB statthaft sind. Jedenfalls wäre allenfalls eine Vereinbarung in Betracht gekommen, daß der Kläger auf die Auszahlung der Rente bis zu einer Aufrechnung mit der Abfindung einverstanden gewesen wäre. Die Beklagte hätte dies bei erneuter Prüfung und Abwägen der - nicht vorhandenen - Vor- und der Nachteile des Verzichts wegen der offensichtlichen Benachteiligung des Klägers durch den Verzicht erkennen müssen (s hierzu Brackmann aaO S 606 e; Lauterbach aaO, 3. Aufl, § 627 Anm 2). Auch in diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die Beklagte in ihrem Aktenvermerk vom 29. Oktober 1973 die Unzulässigkeit des Verzichts des Klägers auf die Rentenleistungen erkannt hat. Sie meint lediglich, die Erklärung des Klägers vom 23. Januar 1952 sei als widerruflicher Verzicht auf die Auszahlung der Rentenbeträge "aufzufassen". Diese Umdeutung ist jedoch gleichfalls offensichtlich nicht zulässig, da der Kläger jedenfalls im Zeitpunkt der Verzichtserklärung eindeutig davon ausgegangen ist, er werde in der Zukunft keinerlei Rentenzahlungen von der Beklagten mehr erhalten.

Ein Bescheid nach § 627 RVO tritt mit Wirkung ex tunc an die Stelle des früheren Bescheides (Brackmann aaO S 606 h; zur Rentenversicherung: BSGE 19, 93, 95; Brackmann aaO S 730 b; aA zur KOV; BSGE 19, 12; BSG SozR 3900 § 40 Nr 5). Somit ist der Bescheid vom 26. März/24. Juni 1952 aufzuheben, und die Beklagte hat über den 30. April 1952 hinaus die Rente zu gewähren.

Die Beklagte hat jedoch bereits im Verfahren vor dem SG die Einrede der Verjährung erhoben.

Bei der Neufeststellung einer Rente nach § 627 RVO ist die Berücksichtigung der Verjährung nicht grundsätzlich ausgeschlossen (s BSG Urteil vom 31. August 1972 - 2 RU 174/69 - und vom 26. Juli 1973 - 8/2 RU 68/71; Brackmann aaO S 606 h und 730 b). Dem steht das Urteil des BSG vom 4. Dezember 1974 (BSGE 38, 224) nicht entgegen; denn die Verjährung der seit dem 1. Mai 1952 fälligen monatlichen Einzelzahlungen (s BSG aaO S 225) war anders als in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall nicht durch einen Antrag unterbrochen, so daß eine Unterbrechung der Verjährung nach Aufhebung des unrichtigen Bescheides nicht wiederaufleben konnte (BSG SozR 2200 § 29 Nr 10). Im vorliegenden Fall hat der Kläger Anspruch auf laufende Rentenleistungen, und dieser Anspruch entfiel durch den Entziehungsbescheid.

Die Einrede der Verjährung verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben. Die Beklagte hat die Verjährung weder arglistig oder sonst rechtswidrig herbeigeführt; denn sie hat lediglich insoweit mit zu dem Eintritt der Verjährung beigetragen, als sie den Verzicht des Klägers im Jahre 1952 rechtsirrtümlich als zulässig angesehen hat und der Kläger somit - entsprechend seiner eigenen Erklärung - davon ausgegangen ist, ihm stünden Rentenzahlungen nicht mehr zu. Würde der Irrtum der Beklagten über die Zulässigkeit des Verzichts, wovon das LSG und der Kläger wohl ausgehen, allein ausreichen, um einen Verstoß gegen Treu und Glauben anzunehmen, würde entsprechend in den meisten Fällen des § 627 RVO die Einrede der Verjährung unzulässig sein. Vor allem ist zu beachten, daß die Beklagte, wenn auch rechtsfehlerhaft, einem Antrag des Klägers voll entsprochen hat.

Der Anspruch auf Leistungen der Versicherungsträger verjährt in vier Jahren nach Fälligkeit, soweit die RVO nichts anderes vorschreibt (s § 29 Abs 3 RVO idF bis zum Inkrafttreten des SGB I). Fällig ist ein Anspruch, wenn der Berechtigte die Erfüllung verlangen kann; grundsätzlich tritt daher die Fälligkeit mit dem Entstehen des Anspruchs bzw mit dem Entstehen der monatlichen Einzelansprüche ein (BSGE 34, 1, 20, 38, 224, 225; Brackmann aaO S 742 f I ff). Somit waren am 23. Mai 1973 - dem Tag der Antragstellung - alle Ansprüche vor dem 1. Juni 1969 verjährt. Daraus ergibt sich auch, daß § 45 SGB I hier nicht anwendbar ist (vgl Art 2 § 17 SGB I; Brackmann aaO S 742 g).

Bei der Kostenentscheidung ist berücksichtigt, daß der Kläger zwar hinsichtlich des zu zahlenden Betrages nur zu etwa ein Drittel obsiegt hat, die Beklagte aber gänzlich unterlegen ist, soweit sie von der Rechtmäßigkeit ihres Bescheides vom 26. März/24. Juni 1952 ausgegangen ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655685

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