Leitsatz (amtlich)

Steht einem Versicherten, der vor dem 1957-01-01 invalide geworden ein Anspruch auf Invalidenrente nicht zu, weil die versicherungstechnischen Voraussetzungen alten Rechts nicht erfüllt sind, so hat er, falls er nach dem 1956-12-31 erwerbsunfähig im Sinne des RVO § 1247 wird, Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, wenn die Wartezeit nach neuem Recht erfüllt ist.

 

Normenkette

RVO § 1247 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 31 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Juni 1959 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die im Jahre 1896 geborene Klägerin war von 1913 bis zu ihrer Verehelichung im Jahre 1921 pflichtversichert beschäftigt; es wurden für diese Zeit 179 Wochenbeiträge entrichtet. Bis zum Jahre 1935 entrichtete sie noch 210 freiwillige Wochenbeiträge.

Wegen eines Gicht- und Ischiasleidens beantragte sie am 12. Januar 1938 Gewährung von Invalidenrente. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch rechtsmittelfähigen Bescheid vom 15. August 1938 mit der Begründung ab, die Klägerin sei zwar invalide, nach § 1262 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei aber die Wartezeit nicht erfüllt, da weniger als 260 Pflichtwochenbeiträge und einschließlich der freiwilligen Beiträge auch keine 520 Wochenbeiträge entrichtet seien. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin kein Rechtsmittel ein.

Am 18. Mai 1957 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) erneut, ihr Rente aus der Invalidenversicherung zu gewähren. Durch Bescheid vom 19. Juni 1957 lehnte die Beklagte auch diesen Antrag mit der Begründung ab, die Wartezeit sei nicht erfüllt. Nach neuem Recht genügten jetzt zwar 60 Beitragsmonate zur Erfüllung der Wartezeit, nach § 1249 RVO in Verbindung mit Art. 2 § 8 ArVNG gelte dies aber nur für Versicherungsfälle, die nach dem 31. März 1945 eingetreten seien.

Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hob das Sozialgericht am 7. November 1957 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, einen neuen Bescheid zu erteilen und hierbei davon auszugehen, daß die Wartezeit erfüllt sei. Durch § 4 Abs. 1 des Sozialversicherungsanpassungsgesetzes vom 17. Juni 1949 (WiGBl. S. 99) (SVAG) sei Art. 17 der ersten Vereinfachungsverordnung (VereinfVO) vom 17. März 1945, nach welchem die Wartezeit 60 Monate betrage, allgemein für anwendbar erklärt worden. Art. 26 a. a. O., nach welchem dies nicht gelte, wenn vor dem 1. April 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid ergangen sei, werde in § 4 Abs. 1 SVAG nicht erwähnt, so daß angenommen werden müsse, daß diese Vorschrift jedenfalls dort nicht anzuwenden sei, wo sie nicht ohnedies schon auf Grund der ersten VereinfVO unmittelbar gelte.

Auf die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hob das Landessozialgericht Baden-Württemberg am 9. Juni 1959 das Urteil des Sozialgerichts auf und wies die Klage ab; es ließ die Revision zu. Entgegen der Annahme des Sozialgerichts sei durch § 4 Abs. 1 SVAG bzw. § 4 Abs. 1 des Badischen SVAG vom 12. Juli 1949 (GVBl. 1949 S. 312) dem Art. 17 der ersten VereinfVO vom 17. März 1945 keine weitere rückwirkende Kraft zugewiesen worden, als er nach Art. 26 a. a. O. ohnedies habe. Die für die Klägerin günstigere Wartezeitvorschrift des Art. 17 der ersten VereinfVO könne, da bereits vor dem 1. April 1945 ein das Versicherungsverhältnis abschließender Bescheid ergangen sei, keine Anwendung finden. Nach dem zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls geltenden Recht sei aber die Wartezeit nicht erfüllt, wie die Beklagte zu Recht angenommen habe. Das neue Wartezeitrecht des § 1246 Abs. 3 RVO könne keine Anwendung finden, da es nur für die ab 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfälle gelte; denn es sei nicht rückwirkend in Kraft gesetzt worden. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) liege nicht vor. Der Gesetzgeber habe zwar durch Art. 2 § 17 Abs. 2 ArVNG das günstigere neue Wartezeitrecht für Hinterbliebene rückwirkend in Kraft gesetzt, und zwar ohne eine dem Art. 26 der ersten VereinfVO entsprechende Beschränkung, er sei jedoch zu dieser unterschiedlichen Regelung für Versicherte und Hinterbliebene befugt gewesen, weil es sich um unterschiedliche Fälle handele.

Gegen das ihrem Prozeßbevollmächtigten zweiter Instanz am 29. Juni 1959 zugestellte Urteil hat die Klägerin durch ihren Prozeßbevollmächtigten dritter Instanz mit Schriftsatz vom 25. Juli 1959, eingegangen am 27. Juli 1959, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 24. August 1959, eingegangen am 26. August 1959, begründet. Sie ist der Auffassung, daß die in Art. 26 der ersten VereinfVO enthaltene Beschränkung der Rückwirkungsanordnung des Art. 17 a. a. O. schon deshalb nicht für den zu entscheidenden Fall gelten könne, weil diese Verordnung in Südbaden nicht in Kraft getreten sei, das neue Wartezeitrecht vielmehr durch das Bad. SVAG eingeführt worden sei und § 4 Abs. 1 dieser Vorschrift weder auf § 17 noch auf § 26 der VereinfVO Bezug nehme.

Sie beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Juni 1959 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts in Freiburg vom 7. November 1957 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zu Recht habe das Berufungsgericht die Anwendbarkeit der VereinfVO vom 17. März 1945 bejaht. Zudem sei entgegen den Ausführungen der Klägerin in § 4 Abs. 1 Bad. SVAG auf Art. 17 der VereinfVO Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg zum Teil nicht versagt bleiben.

Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, daß der Klägerin ein Anspruch auf Invalidenrente - die nach Art. 2 §§ 31 ff. ArVNG umzustellen wäre - nicht zusteht.

Da dieser Anspruch bereits durch Bescheid der Beklagten vom 15. August 1938 bindend abgelehnt worden ist, könnte dem Antrag der Klägerin, selbst wenn sich die Rechtslage inzwischen mit rückwirkender Kraft zu ihren Gunsten geändert hätte, nur stattgegeben werden, wenn die Bindungswirkung dieses Bescheids auf Grund besonderer gesetzlicher Regelung zu ihren Gunsten zu durchbrechen wäre. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

Nach § 1300 RVO hat der Versicherungsträger nur dann eine bindend abgelehnte Leistung zu gewähren, wenn er sich bei einer erneuten Prüfung davon überzeugt, daß die Ablehnung nach dem zur Zeit der Ablehnung geltenden Recht zu Unrecht erfolgt ist. Wie die Beklagte jedoch zutreffend ausgeführt hat, ist der Bescheid vom 15. August 1938 nicht rechtswidrig, da die Wartezeit nach § 1262 RVO damaliger Fassung nicht erfüllt ist. Zwar waren mindestens 260 Beitragswochen zurückgelegt. Da diese aber nicht ausschließlich durch Entrichtung von Pflichtbeiträgen zurückgelegt worden sind, hätten mindestens 520 Wochenbeiträge entrichtet sein müssen. Daran mangelt es jedoch.

Diese Wartezeitvorschrift ist zwar durch Art. 17 der ersten VereinfVO vom 17. März 1945 (BGBl. I S. 41) und § 4 Abs. 1 SVAG zu Gunsten der Versicherten dahingehend geändert worden, daß für die Erfüllung der Wartezeit die Zurücklegung von 60 Beitragsmonaten - gleichgültig, ob dies durch Pflicht- oder durch freiwillige Beiträge geschehen ist - genügt. Nach Art. 26 der ersten VereinfVO ist Art. 17 auch rückwirkend auf alte Versicherungsfälle anzuwenden, dies gilt aber nicht, wenn bereits ein das Versicherungsverhältnis rechtskräftig abschließender Bescheid vorliegt. Selbst auf Grund dieser Vorschrift besteht also keine Möglichkeit, der Klägerin eine Invalidenrente zuzubilligen. Dasselbe gilt hinsichtlich des SVAG und des Bad. SVAG. Wenn man annehmen würde, daß Art. 26 der ersten VereinfVO von dem SVAG bzw. dem Bad. SVAG in den Gebieten, in welchen er möglicherweise nicht gilt, nicht in Kraft gesetzt worden wäre, würde es überhaupt an einer Rückwirkungsanordnung fehlen; auf alte Versicherungsfälle könnte deshalb die günstigere Wartezeitvorschrift des Art. 17 der ersten VereinfVO selbst dann nicht angewandt werden, wenn ein das Versicherungsverhältnis abschließender bindender Bescheid nicht vorliegt, erst recht also nicht, wenn dies der Fall ist.

Auch Art. 2 § 44 Satz 2 ArVNG gestattet keine Durchbrechung der Bindungswirkung des Bescheids vom 12. Januar 1938. Diese Ermächtigung ist beschränkt auf Versicherungsfälle, für die Art. 2 §§ 8 und 17 bis 19 a. a. O. gelten. Da die §§ 17 bis 19 Hinterbliebenenrenten betreffen, könnte hier allenfalls § 8 in Betracht kommen. Diese Vorschrift betrifft aber nur Versicherungsfälle, die nach dem 31. März 1945 eingetreten sind, ergreift also nicht den vorliegenden Versicherungsfall, der bereits im Jahre 1938 eingetreten ist. Anders als bei der in Art. 2 § 17 Abs. 2 ArVNG ohne Einschränkung rückwirkend geltenden Regelung für Hinterbliebene, die nach Art. 2 § 44 Satz 2 a. a. O. auch auf bereits rechtskräftig oder bindend entschiedene Fälle anwendbar ist, gibt es für Versicherte demnach keine entsprechende, rückwirkend anwendbare günstigere Regelung der Wartezeitvorschriften für Versicherungsfälle, die vor dem 1. April 1945 eingetreten sind. Wenn diese unterschiedliche Regelung vielleicht auch nicht besonders sinnvoll erscheinen mag, so verstößt sie doch entgegen der Ansicht der Klägerin nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz. In Art. 3 Abs. 1 GG ist zwar dem Gesetzgeber auferlegt, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Ungleichheit gemäß zu regeln, jedoch ist ihm hierbei ein weiter Spielraum eingeräumt, und es ist ihm lediglich untersagt, sachfremde, willkürliche Regelungen zu treffen. Davon kann hier aber keine Rede sein.

Wenn danach das Berufungsgericht auch zu Recht entschieden hat, daß der Klägerin ein Anspruch auf - umzustellende - Invalidenrente nicht zusteht, so hat es doch zu Unrecht die Prüfung unterlassen, ob sie nicht einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO hat. Die Klägerin hat zwar die Gewährung von Rente aus der Invalidenversicherung beantragt, durch ihren Hinweis auf das ArVNG hat sie jedoch genügend deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie hilfsweise auch die Zubilligung einer Rente neuen Rechts, und zwar, da sie inzwischen völlig erwerbsunfähig geworden sei, der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO begehrt. Der Gewährung einer solchen Rente steht nicht entgegen, daß die Klägerin vor dem 1. Januar 1957 bereits invalide geworden ist. Denn bei dem Anspruch auf Invalidenrente und dem Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit handelt es sich, wenn beide Ansprüche auch in einem gewissen rechtlichen Zusammenhang stehen, doch um gesonderte Ansprüche, so daß beide Ansprüche nicht unbedingt dasselbe rechtliche Schicksal haben müssen. Insbesondere ist der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit ein anderer Versicherungsfall als der der Invalidität, da beide an verschiedene Voraussetzungen geknüpft sind. Wenn es auch richtig ist, daß Invalidität stets gegeben ist, wenn Erwerbsunfähigkeit vorliegt, so ist doch das Umgekehrte nicht der Fall. Ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit kann allerdings, da § 1247 RVO nicht rückwirkend anwendbar ist, nur in Betracht kommen, wenn der Versicherte erst nach dem 31. Dezember 1956 erwerbsunfähig geworden ist. Selbst dann kann dies aber zur Rentengewährung nur führen, wenn eine Rente nach altem Recht weder festgestellt ist noch festgestellt werden kann, sei es, weil vor dem 1. Januar 1957 Invalidität (Berufsunfähigkeit) nicht eingetreten ist, sei es, weil trotz Vorliegens von Invalidität (Berufsunfähigkeit) eine Rente nicht zu gewähren ist, da die versicherungstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Denn für den Fall, daß eine Rente nach altem Recht festgestellt ist oder noch festgestellt wird, schreibt Art. 2 § 31 Abs. 1 a. a. O. die Rentenumstellung vor. Eine Rentenumstellung aber schließt eine originäre Rentengewährung aus, da nicht zwei Renten nebeneinander gewährt werden können und die Konzeption des Gesetzgebers dahin geht, der umzustellenden Rente den Vorzug zu geben. Denn nach Art. 2 § 38 a. a. O. gelten die umgestellten Renten dieser Art bereits als Altersruhegeld oder als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Man kann daher nicht annehmen, daß sie entfallen sollen, um für die Gewährung einer entsprechenden Rente neuen Rechts Raum zu schaffen.

Es muß hier also noch untersucht werden, ob die Klägerin, was bisher nicht festgestellt ist, erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 RVO ist, und falls dies bejaht wird, ob die Erwerbsunfähigkeit schon vor dem 1. Januar 1957 oder erst nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten ist. Nur in diesem letzteren Falle wäre ihr die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 RVO zu gewähren.

Mangels dahingehender Feststellungen mußte die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

BSGE, 259

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge