Orientierungssatz

Das Rechtsinstitut der Verjährung soll durch Zeitablauf bedingten Beweisschwierigkeiten, die durch Mutmaßungen nicht ersetzt werden können, Rechnung tragen.

 

Normenkette

RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Juli 1970 und des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Januar 1971 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Am 4. November 1945 erlitt der Kläger, der damals als deutscher Zivilarbeiter bei den britischen Besatzungstruppen tätig war, einen Unfall vor dem Arbeitsamt in H: Beim Besteigen eines den britischen Besatzungstruppen gehörenden Lastwagens, mit dem er und andere Arbeiter zum Abladen von Benzinkanistern im Auftrage der britischen Militärregierung nach H gebracht werden sollten, fiel er herunter, als der Lastwagen plötzlich anfuhr. Hierbei zog der Kläger sich einen Schenkelhalsbruch rechts zu.

Bis zum 14. September 1946 wurde er mit Unterbrechungen stationär wegen der Unfallfolgen in verschiedenen Krankenhäusern behandelt, zuletzt im Unfallkrankenhaus N, Bad O. Der leitende Arzt dieses Krankenhauses, Dr. T, schätzte in seinem Gutachten vom 14. September 1946 die durch den Unfall bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf vorläufig 60 v. H. und empfahl eine Nachuntersuchung nach einem halben Jahr, zu der es nicht mehr kam. Seit dem 1. Oktober 1946 arbeitete der Kläger wieder.

Die Beigeladene übernahm die Kosten der Heilbehandlung. Mit formlosem Schreiben vom 19. Dezember 1946 - abgesandt am 21. Dezember 1946 - gewährte sie dem Kläger für die Zeit seiner unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit - also bis zum 30. September 1946 - eine Verletztenrente in Höhe der Vollrente mit Ausnahme der Zeiten stationärer Behandlung, in denen die Verletztenrente ruhte. Insgesamt erhielt er an Verletztenrente 81,19 RM. In dem Schreiben hieß es außerdem: "Ab 1.10.46 waren Sie arbeitsfähig".

Am 4./7. August 1967 begehrte der Kläger bei der Beigeladenen wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Mit dem Bescheid vom 10. Oktober 1967 gewährte die Beklagte dem Kläger rückwirkend vom 4. August 1963 an eine Verletztenrente in Höhe von 60 v. H.. Für die Zeit davor machte sie die Einrede der Verjährung geltend. Sein hiergegen gerichteter Widerspruch war insofern erfolglos, als Rente für die Zeit ab Oktober 1946 nicht zugebilligt wurde (Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 1969). Auf die außerdem rechtzeitig gegen den Bescheid vom 10. Oktober 1967 erhobene Klage, mit der der Kläger die Gewährung einer Unfallrente von 40 v. H. für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 3. August 1963 begehrte, hat das Sozialgericht (SG) Hamburg - gestützt auf eine Schätzung der durchschnittlichen MdE während der Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 3. August 1963 durch den medizinischen Sachverständigen - die Bescheide vom 10. Oktober 1967 und 2. Juli 1969 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 3. August 1963 eine Verletztenrente in Höhe von 40 v. H. der Vollrente zu zahlen (Urteil des SG vom 6. Juli 1970).

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat mit Urteil vom 14. Januar 1971 die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte dem Grunde nach verurteilt werde, dem Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis zum 3. August 1963 Verletztenrente zu gewähren. Es hat ua. ausgeführt: Die Bescheide vom 10. Oktober 1967 und 2. Juli 1969 seien rechtswidrig.

Das damals erteilte Schreiben vom 19. Dezember 1946 müsse nach seinem objektiven Erklärungswert dahin verstanden werden, daß damit eine Verletztenrente für die Zeit ab 1. Oktober 1946 abgelehnt worden sei. Dieser Verwaltungsakt sei unrichtig gewesen. Auch während des gesamten strittigen Zeitraumes sei der Kläger unfallbedingt zumindest in einem rentenberechtigenden Grade (20 v. H) in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Gemäß § 619 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF bzw. § 627 RVO nF sei die Beklagte zur Neufeststellung verpflichtet, ohne die Verwirkung oder Verjährung der Leistungsansprüche für diese Zeit rechtswirksam geltend machen zu können. Sein Leistungsrecht habe der Kläger nicht verwirkt. Über den reinen Zeitablauf von mehr als zwanzig Jahren hinaus seien besondere für die Verwirkung maßgebliche Umstände nicht dargetan, die ein Vertrauen der Beklagten darauf begründen könnten, sie werde wegen der Folgen des damals erlittenen Arbeitsunfalles vom Kläger nicht mehr in Anspruch genommen werden. Die Erhebung der Einrede der Verjährung sei unzulässig. Die fehlerhafte Ablehnung von Entschädigungsansprüchen ab 1. Oktober 1946 beruhe auf der objektiven Pflichtverletzung der Beigeladenen bei der Handhabung des in § 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO vorgeschriebenen Grundsatzes der Amtsermittlung. Sie hätte feststellen müssen, welche Leistungen dem Kläger ab 1. Oktober 1946 zugestanden hätten; hierüber hätte ihm ein förmlicher Bescheid gemäß §§ 1569 a, 1583 Abs. 1 RVO erteilt werden müssen. Auch wenn die Beigeladene sich mangels einer gesetzlichen Vorschrift nicht für zuständig gehalten habe, hätte sie ihm die gesetzlichen Leistungen als vorläufige Fürsorge gemäß § 1735 RVO zuwenden müssen. Das fehlerhafte Verhalten der Beigeladenen müsse die Beklagte sich zurechnen lassen. Dabei könne dahinstehen, ob die Beigeladene von vornherein für die Beklagte tätig geworden sei oder erst später die Zuständigkeit auf die Beklagte übergegangen sei. Im ersteren Fall müsse die Beklagte für das Verhalten der Beigeladenen wie eigenes Verhalten einstehen. Im letzteren Fall ergebe sich dieses Einstehenmüssen für das Verhalten der Beigeladenen aus dem Übergang der Zuständigkeit auf sie.

Der Nachzahlungsanspruch richte sich für die gesamte Zeit gegen die Beklagte. Zwar habe es bis zum 1. Juli 1963 als Folge der ungeklärten staatsrechtlichen Lage Deutschlands keine ausdrückliche Zuständigkeitsregelung für die Unfallversicherung der bei den ausländischen Streitkräften beschäftigten Arbeitnehmer gegeben. Erst von diesem Zeitpunkt an sei geregelt, daß Träger der Unfallversicherung für den genannten Personenkreis die Bundesrepublik Deutschland sei (vgl. Art. I Abs. 1 des Abkommens zwischen den Parteien des Nordatlantik-Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen vom 19. Juni 1951 - BGBl II 1961, 1190 - iVm Art. 56 Abs. 3 des hierzu abgeschlossenen Zusatzabkommens vom 3. August 1959 - BGBl II 1961, 1218 - und Bekanntmachung vom 16. Juni 1963 - BGBl II 1963, 745 -). Die ab 1. Juni 1963 geltende Zuständigkeitsregelung sei jedenfalls insoweit auch auf Fälle zu übertragen, in denen - wie hier - die unfallversicherungsrechtliche Regulierung bei Inkrafttreten der nunmehr gültigen Zuständigkeitsregelung noch nicht abgeschlossen gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend, sie habe die Akten überhaupt erst am 10. August 1967 von der Beigeladenen erhalten, weil diese die Sache offensichtlich als endgültig abgeschlossen betrachtet habe. Daraus ergebe sich, daß die Beigeladene mit einer Inanspruchnahme durch den Kläger nicht mehr gerechnet habe. Das LSG habe sonach zu Unrecht ihre Einwendung der Verwirkung nicht durchgreifen lassen; das gelte aber auch für die Einrede der Verjährung der Ansprüche insbesondere wegen der Besonderheiten der Nachkriegsverhältnisse. Im übrigen könne frühestens vom 1. April 1950 an die Beklagte zur Gewährung von Leistungen an den Kläger verurteilt werden, da bis zu diesem Zeitpunkt die Aufwendungen für Besatzungskosten vom Land - also der Beigeladenen - aufzubringen gewesen seien (vgl. 1. und 2. Gesetz zur Überleitung von Lasten und Deckungsmitteln auf den Bund vom 28. November 1950 - BGBl I 773 - und vom 21. August 1951 - BGBl I 774 -).

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG Hamburg vom 14. Januar 1971 und das Urteil des SG Hamburg vom 6. Juli 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG abzuändern und die Beigeladene zur Gewährung einer Verletztenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 31. März 1950 zu verurteilen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Dem LSG-Urteil sei zuzustimmen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete, durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch begründet.

Entgegen der Ansicht des LSG war die Beklagte nicht gehindert, sich auf den Eintritt von Verjährung (§ 29 Abs. 3 RVO) zu berufen.

Das LSG ist davon ausgegangen, daß mit dem Schreiben der Beigeladenen vom 19. Dezember 1946 Rentenansprüche für die Zeit nach dem 1. Oktober 1946 abgelehnt worden sind. Dagegen ist in tatsächlicher Hinsicht nichts vorgebracht, auch begegnet die Annahme eines ablehnenden Verwaltungsakts keinen rechtlichen Bedenken (vgl. BSG 24, 162 (164 f)). Damit steht fest, daß dem Kläger - da die Feststellung von Amts wegen erfolgte - die zweijährige Anschlußfrist des § 1546 RVO aF nicht entgegengehalten werden kann (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I, Stand: 15. August 1972, S. 232 s), und andererseits, daß diese Ablehnung im Zeitpunkt der Stellung des Verschlimmerungsantrags im August 1967 längst bindend geworden war. Daß die von der Beigeladenen begründeten Verbindlichkeiten im Wege der Funktionsnachfolge auf die Beklagte grundsätzlich übergegangen sind (vgl. BSG 24, 162, 163), ist unter den Beteiligten unstreitig. Ebenso ist unstreitig, daß dem Kläger für eine gewisse Zeit vor August 1967 Leistungen zu Unrecht nicht gewährt worden sind. Damit ist die nunmehr zuständige Beklagte nach § 627 RVO iVm Art. 4 § 2 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes grundsätzlich zur Neufeststellung verpflichtet. § 627 RVO schließt aber nicht aus, daß sich der Versicherungsträger auf Verjährung beruft (vgl. BSG 19, 93 (96); SozR Nr. 11 zu § 1300 RVO). Da die Verjährungsfrist abgelaufen ist und sich die Beklagte hierauf berufen hat, kann es für die Entscheidung allein darauf ankommen, ob die Berufung auf den Eintritt der Verjährung rechtsmißbräuchlich ist. Diese Frage ist zu verneinen.

Mit der Einrede der Verjährung wird dem, der verspätet in Anspruch genommen wird, ein einfaches, von den durch den Zeitablauf verursachten Beweisschwierigkeiten unabhängiges Schutzmittel gegen oftmals unbegründete Ansprüche in die Hand gegeben (vgl. Staudinger, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 11. Aufl., Vorbem. 2 vor § 194 BGB). Daneben wird es als Zweck der Verjährung im Bereich der Sozialversicherung bezeichnet, zu verhüten, daß die Versicherungsträger durch Nachzahlungen für weit zurückliegende Zeiten eine unvorhergesehene Belastung erfahren (vgl. RVA EuM 33, 314 (316); BSG 34, 1 (12), wobei bei Renten noch hinzukommen mag, daß sie ihre Funktion, dem laufenden Unterhalt des Berechtigten zu dienen (BSG 19, 88 (91); 34, 1 (12)), nicht sinnvoll erfüllen können, wenn sie für längst verflossene Zeiten nachgezahlt werden. Demgemäß muß die Erhebung der Verjährungseinrede um so mehr als dem Zweck dieses Rechtsinstituts entsprechend und damit nicht rechtsmißbräuchlich erscheinen, je länger der Berechtigte bei der Verfolgung seines Anspruchs untätig geblieben ist und je größer die Beweisschwierigkeiten sind, die sich aus dem Zeitablauf ergeben haben.

Das LSG hat angenommen, daß dem Kläger während der gesamten in Betracht kommenden Zeit dem Grunde nach ein Anspruch auf Verletztenrente zugestanden hat. Es hat sich aber - ebenso wie das SG - nicht in der Lage gesehen, den Grad der MdE des Klägers während der einzelnen Zeitabschnitte festzustellen, sondern es lediglich für bewiesen gehalten, daß die MdE stets mindestens 20 v. H. betragen, diesen Mindestgrad lange Zeit hindurch aber überschritten haben müsse (Urteil S. 7). Die Bildung einer durchschnittlichen MdE, wie sie vom SG vorgenommen worden war, hat das LSG nicht gebilligt (S. 4); es hat dazu weitere Feststellungen für erforderlich gehalten (S. 5), jedoch nicht angegeben, welcher Art diese - nach Ablauf von über zwanzig Jahren - sein sollten. Es mag offenbleiben, ob solche Feststellungen, die naturgemäß eher auf bloßen Mutmaßungen als auf hinreichend zuverlässigen MdE-Schätzungen beruhen, für den Ausspruch einer Verpflichtung der Beklagten auch nur dem Grunde nach ausreichen; die genaue Feststellung des nach dem Gesetz zustehenden Rentenbetrages begegnet jedenfalls nach über zwanzig Jahren Schwierigkeiten, deren Überwindung insbesondere dann als nahezu ausgeschlossen angesehen werden muß, wenn der Leidenszustand während dieser langen Zeit nicht unverändert geblieben ist, d. h. wenn er sich - wie hier - zunächst gebessert und dann fortschreitend verschlimmert hat (vgl. SG-Urteil S. 10).

Ob Erwägungen dieser Art ausreichen, bei der Einrede der Verjährung die Annahme eines Rechtsmißbrauchs auszuschließen, bedarf hier keiner Entscheidung; sie sind jedenfalls geeignet, das Gewicht anderer Überlegungen, die gegen eine solche Annahme sprechen, wesentlich zu verstärken und im Verein mit ihnen die Erhebung der Verjährungseinrede als berechtigt erscheinen zu lassen.

Für den Bereich der Rentenversicherung hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits wiederholt entschieden, daß sich der Versicherungsträger bei der Anwendung von § 1300 RVO - der dem § 627 RVO entspricht - nicht auf Verjährung berufen darf, wenn er die unrichtige Feststellung zu vertreten hat (vgl. insbesondere BSG 19, 93 (97); 28, 282 (286 f); SozR Nr. 5 zu § 1300 RVO). Es mag offen bleiben, ob und ggf. in welchem Sinne sich diese Grundsätze auf den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung übertragen lassen. Die Entschädigungspflicht der Unfallversicherungsträger wurzelt in erheblich stärkerem Maße in Geschehensabläufen und Zuständen, die im allgemeinen umgehend und laufend festgestellt werden müssen. Eine zuverlässige Feststellung, ob und in welchem Umfange ein Verletzter in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert war, läßt sich oftmals schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit nicht mehr treffen. Es liegt daher der Gedanke nahe, einem Verschulden des Versicherungsträgers bei der früheren Feststellung in dem hier in Betracht kommenden Zusammenhang eine geringere Bedeutung beizumessen oder einen anderen Verschuldensmaßstab anzulegen. Doch selbst wenn man die für den Bereich der Rentenversicherung aufgestellten Grundsätze hier im wesentlichen unverändert gelten läßt, führt das unter Berücksichtigung der Umstände des Falles nicht zu dem Ergebnis, daß die Berufung der Beklagten auf die Verjährung eine unzulässige Rechtsausübung darstellt. Denn der Beigeladenen, für die die Beklagte einzustehen hat, kann allenfalls ein so geringfügiges Verschulden zur Last gelegt werden, daß ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Falles kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden kann.

Wie das LSG dargelegt hat, ist erst seit dem 1. Juli 1963 - ausdrücklich - gesetzlich geregelt, welcher Versicherungsträger für die Unfallversicherung der bei den in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Streitkräften beschäftigten Arbeitnehmer zuständig ist, nämlich die Bundesrepublik Deutschland (Art. 1 Abs. 1 des Abkommens zwischen den Parteien des Nordatlantik-Vertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen vom 19. Juni 1951 - BGBl II 1961, 1190 - iVm Art. 56 Abs. 3 des hierzu abgeschlossenen Zusatzabkommens vom 3. August 1959 - BGBl II 1961, 1218, 1277 - und der Bekanntmachung vom 16. Juni 1963, Ziff. 1 und 2 - BGBl II 1963, 745; vgl. auch Brackmann, aaO, Bd. II S. 472 c und d). Entgegen der Ansicht des SG hat für die Beigeladene zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls eine gesetzliche Regelung, die die Zuständigkeit der Beigeladenen eindeutig begründete, nicht bestanden. Eine solche gesetzliche Regelung ist insbesondere nicht in der vom SG erwähnten Anordnung der Britischen Armee vom 8. Juni 1945 (Az.: 609/Lab/15/2), wonach die Beigeladene verunglückte Zivilarbeiter der Besatzungstruppen betreuen sollte, zu erblicken. Diese Anordnung ist ersichtlich nicht veröffentlicht worden, so daß damals zumindest zweifelhaft sein konnte, ob sie materielles Recht darstellte (vgl. von Schmoller/Maier/Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, 1957, § 25 S. 13). Zudem enthielt diese Anordnung auch keinen Hinweis darauf, nach welchen Vorschriften und in welchem Umfang die Beigeladene Leistungen für den in ihr genannten Personenkreis erbringen sollte. Auch die Anordnung des Kontrollrates Nr. 27 vom 18. März 1946 (Amtsbl. des Kontrollrates Nr. 7 S. 146) stellt keine gesetzliche Regelung dar, aus der die Beigeladene zwingend ihre Zuständigkeit zur Regulierung der Unfallfolgen des Klägers entnehmen mußte. In dieser kurzen Anordnung ist die gesetzliche Unfallversicherung überhaupt nicht erwähnt, viel weniger sind die für die Unfallversicherung in Betracht kommenden Versicherungsträger genannt. Überdies ist diese Anordnung erst nach dem Arbeitsunfall des Klägers veröffentlicht worden und legt sich keine rückwirkende Kraft auf Unfälle bei, die vor ihrem Inkrafttreten eingetreten sind. Schließlich hat auch noch die Sozialversicherungsanordnung Nr. 9 vom 9. Juni 1947 (Arbeitsbl. für die Britische Zone 1947, 233), mit der die Reichsausführungsbehörden für Unfallversicherung in W und K aufgelöst wurden, die neue Ausführungsbehörde nur für die Fälle des § 624 Abs. 1 Buchst. a und b RVO als zuständig erklärt. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann der damalige Rechtsstandpunkt der Beigeladenen, ihre Zuständigkeit sei zweifelhaft und möglicherweise nicht gegeben, nicht als unhaltbar bezeichnet werden. Aus der Sicht der Beigeladenen kam auch die Zuwendung vorläufiger Fürsorge nach § 1735 RVO nicht ohne weiteres in Betracht. Denn diese Vorschrift setzt voraus, daß der die vorläufige Fürsorge zuwendende Versicherungsträger den Leistungsfall nach Klärung der Zuständigkeitsfrage an den zuständigen Versicherungsträger abgeben kann. Hier bestanden jedoch ernstliche Zweifel, ob überhaupt irgendein Unfallversicherungsträger zuständig war.

Die Rechtsauffassung der Beigeladenen mag bei rückschauender Betrachtung unrichtig gewesen sein. Im allgemeinen hat es der Versicherungsträger zu vertreten, wenn sich seine frühere Rechtsauffassung als unrichtig erweist. Das kann aber nicht ohne Einschränkung für die Rechtsunsicherheit gelten, in der sich die Beigeladene im Jahre 1946 befand. Hat eine spätere Abklärung der Rechtslage ergeben, daß sich die Beigeladene geirrt hat, so kann ihr ein solcher Irrtum nicht ohne weiteres als Verschulden im Sinne der obrigen Rechtsprechung angerechnet werden. In jedem Falle tritt aber ein etwaiges geringes Verschulden der Beigeladenen hier an Bedeutung hinter den Umstand, daß der Kläger zwanzig Jahre lang untätig geblieben ist und dadurch die oben angedeutete Erschwerung oder gar Unmöglichkeit zureichender Sachaufklärung wenn schon nicht verschuldet, so doch bewirkt hat, in einem solchen Maße zurück, daß die Berufung der Beklagten auf den Eintritt der Verjährung nicht als unzulässige Rechtsausübung erscheint.

Somit waren die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668860

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