Leitsatz (amtlich)

Ein Versicherter, der infolge seiner Beschäftigung dursterregenden Einwirkungen ausgesetzt ist, steht bei der Befriedigung seines dadurch bedingten Durstgefühls unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn das Trinken der Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit wesentlich dient.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 17. Mai 1957 sowie der Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 15. Oktober 1957 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1960 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin zu 1) wegen des Arbeitsunfalls vom 27. September 1956 die gesetzlichen Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin zu 1) die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin zu 1) war in den S-Werken in W als Polstereiarbeiterin beschäftigt. Sie wurde am 27. September 1956 gegen 10 Uhr während der Arbeit von einem Unfall betroffen. Sie war durstig und wollte eine Flasche Sprudelwasser öffnen, die sie an ihrem Arbeitsplatz zum Trinken bereitgestellt hatte. Die Flasche zersprang in ihren Händen. Dabei drang ein Glassplitter in ihr rechtes Auge und rief einen Irisprolaps sowie einen Wundstar hervor. Infolge der Verletzung war die Klägerin zu 1) bis zum 27. Januar 1957 arbeitsunfähig krank. Die Klägerin zu 2) hatte die Kosten für die Behandlung im Krankenhaus aufgewandt.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 17. Mai 1957 Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, das unfallbringende Verhalten der Verletzten habe lediglich der Befriedigung eines persönlichen Bedürfnisses gedient und unterliege daher nicht der gesetzlichen Unfallversicherung.

Diesen Bescheid haben die Klägerin zu 1) und die Klägerin zu 2) - diese gemäß § 1511 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - je rechtzeitig angefochten. Die Klägerin zu 1) hat geltend gemacht, sie habe sich die Flasche Wasser aus der Werkskantine beschafft, weil sie infolge des Umgangs mit Palmfasern in staubiger Luft habe arbeiten müssen und deshalb durstig gewesen sei.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat durch Urteil vom 15. Oktober 1957 die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, die Klägerin zu 1) sei in ihrem Arbeitsraum keiner so erheblichen Staubeinwirkung ausgesetzt gewesen, daß für sie der Genuß von Sprudelwasser während der Arbeitszeit zur Aufrechterhaltung ihrer Arbeitskraft notwendig gewesen sei.

Hiergegen haben die beiden Klägerinnen je rechtzeitig Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Staatlichen Gewerbearzt in Düsseldorf als Sachverständigen darüber gehört, ob der Genuß von Sprudelwasser wegen der Staubeinwirkung am Arbeitsplatz der Klägerin zu 1) aus betrieblichen Gründen geboten gewesen sei. Der Sachverständige hat das Gutachten nach Prüfung der Betriebsverhältnisse am Arbeitsplatz der Klägerin zu 1) erstattet. Das LSG hat durch Urteil vom 12. Januar 1960 die Berufungen zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen folgendes ausgeführt: Nach dem Gutachten des Staatlichen Gewerbearztes seien keine zwingenden betrieblichen Umstände ersichtlich, aus denen auf einen inneren ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Genuß des Sprudelwassers und der Betriebstätigkeit der Klägerin zu 1) geschlossen werden könnte. Diese sei vor dem Unfall nicht einer so lang andauernden Staub- und Hitzeeinwirkung ausgesetzt gewesen, daß das Trinken durch ihre Beschäftigungsweise geboten gewesen sei. Ein bloßer betrieblich bedingter Anreiz zum Trinken genüge für die Annahme des ursächlichen Zusammenhangs mit der Arbeitstätigkeit nicht. Hierfür sei vielmehr erforderlich, daß vorwiegend zwingende betriebliche Gegebenheiten das Bedürfnis nach Flüssigkeitsaufnahme bedingten.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 26. April 1960 zugestellte Urteil haben beide Klägerinnen Revision eingelegt, und zwar die Klägerin zu 1) am 4. Mai 1960 und die Klägerin zu 2) am 24. Mai 1960. Die Klägerin zu 1) hat die Revision am 7. Mai 1960 wie folgt begründet: Das LSG habe § 542 RVO unrichtig angewandt. Nach den in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) zu Unfällen im Zusammenhang mit dem Genuß durststillender Getränke entwickelten Grundsätzen sei der vorliegende Streitfall im Sinne des Klagebegehrens zu entscheiden. Das LSG habe verkannt, daß der Unfall der Klägerin zu 1) wesentlich durch ihre Arbeit auf der Betriebsstätte verursacht worden sei und daß sie nicht aus betriebsfremden Gründen habe trinken wollen.

Die Klägerin zu 2) macht sich mit ihrer Revisionsbegründung vom 15. Juni 1960 die Ausführungen der Klägerin zu 1) zu eigen und nimmt ebenfalls auf die bisherige Rechtsprechung zu der vorliegenden Streitfrage Bezug.

Beide Klägerinnen beantragen,

die Urteile der Vorinstanzen sowie den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin zu 1) Entschädigung aus Anlaß des Unfalls vom 27. September 1956 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Sie meint, der Hinweis der Klägerinnen auf die Rechtsprechung des RVA gehe fehl, da ihr andere Sachverhalte zugrunde gelegen hätten. Das RVA habe jedenfalls nicht die Auffassung vertreten, daß schon ein betriebsbedingter Anreiz zu verstärkter Flüssigkeitsaufnahme die an sich eigenwirtschaftliche Tätigkeit des Trinkens auf der Arbeitsstätte zu einer versicherten Betätigung mache.

II

Die durch Zulassung statthaften Revisionen sind in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie hatten auch Erfolg.

Die Entscheidung über die Entschädigungsansprüche der Klägerin zu 1), die während der Arbeitszeit an ihrem Arbeitsplatz von einem Unfall betroffen wurde, als sie aus einer Flasche Sprudelwasser ihren Durst stillen wollte, hängt davon ab, ob das auf die Befriedigung des Durstgefühls gerichtete Verhalten der Verletzten ihrer versicherten Arbeitstätigkeit zuzurechnen ist. Der erkennende Senat hat dies entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bejaht. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß das Trinken eine in der Regel dem persönlichen und daher unversicherten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnende Betätigung ist. Mit seiner Ansicht, daß ein auf die Befriedigung des Durstgefühls gerichtetes Verhalten nur dann nicht einem privaten Zweck diene, wenn "vorwiegend zwingende betriebliche Gegebenheiten" das Bedürfnis zum Trinken bedingten, überspannt das Berufungsgericht jedoch die Anforderungen, die an den für die Annahme eines Arbeitsunfalls erforderlichen inneren ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallereignis zu stellen sind. Es verkennt hierbei, daß bei einem Versicherten, der infolge seiner Beschäftigung dursterregenden Einwirkungen ausgesetzt ist, bei der Befriedigung seines dadurch bedingten Durstgefühls der ursächliche Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit begründet ist, wenn das Trinken der Erhaltung seiner Arbeitsfähigkeit wesentlich dient. Diesen Rechtsgedanken hat der erkennende Senat für das Essen in seiner in SozR RVO § 543 Bl. Aa 19 Nr. 26 veröffentlichten Entscheidung vom 30. Juni 1960, auf die im einzelnen verwiesen wird, bereits ausgesprochen. Daß in dieser Entscheidung das Erfordernis des Zusammenhangs zwischen dem Essen und der Wiedererlangung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit mit "unumgänglich" umschrieben ist, erklärt sich aus den Umständen des ihr zugrunde liegenden Sachverhalts. Was nach der angeführten Entscheidung für das Essen gilt, muß unter gleichen Voraussetzungen beim Trinken zu derselben Rechtsfolge führen.

Hiernach ist bei dem gegebenen Sachverhalt die unfallbringende Betätigung der Klägerin zu 1) ihrer versicherten Arbeitstätigkeit zuzurechnen. Nach den das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) war die Klägerin zu 1) am Unfalltage vom Beginn ihrer Arbeitsschicht an - abgesehen von einer viertelstündigen Frühstückspause - etwa drei Stunden der Einwirkung von Faserstaub bei der Herstellung von Matratzen in einem umschlossenen Arbeitsraum ausgesetzt gewesen, als sie verunglückte. Der Staatliche Gewerbearzt hat in seinem Sachverständigengutachten auf Grund einer Besichtigung des Arbeitsplatzes der Verletzten und einer Prüfung ihrer Arbeitsverhältnisse dargelegt, daß die in der Werkhalle umherfliegenden Staubteilchen bei einer mehr oder weniger lang andauernden Tätigkeit und bei einer individuell verschieden starken Empfindlichkeit der Arbeitnehmer ohne weiteres als unangenehm und belästigend empfunden werden müßten und daß sich dies in einem unterschiedlich großen Durstgefühl äußere. Diese Ausführungen hat sich das LSG, wie sich aus der Begründung des angefochtenen Urteils ergibt, zu eigen gemacht und somit die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen festgestellt. Es hat wohl verneint, daß die Klägerin zu 1) einer lang andauernden Staubeinwirkung ausgesetzt gewesen sei. Darin ist jedoch keine gesonderte tatsächliche Feststellung dieses Inhalts zu erblicken. Vielmehr hat das LSG insoweit einen bereits feststehenden Sachverhalt gewertet und ist unter Berücksichtigung der hohen Anforderungen, die es an die Voraussetzungen für die Annahme des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Trinken und der Betriebstätigkeit stellt, zu dem Ergebnis gelangt, daß die gewerbeärztlichen Feststellungen die Annahme dieses Zusammenhangs nicht rechtfertigten. Auf jeden Fall ist den Ausführungen des angefochtenen Urteils zu entnehmen, daß die Klägerin zu 1) während ihrer Arbeitszeit am Unfalltage und bei der Art der betriebsbedingten Staubeinwirkung in dieser Zeit bis zum Eintritt des Unfalls in erheblichem Maße in einer dursterregenden Luft gearbeitet hatte. Dieser Umstand rechtfertigt nach der Auffassung des erkennenden Senats die Schlußfolgerung, daß betriebliche Einflüsse zur Entstehung des Durstgefühls der Klägerin zu 1) wesentlich mitgewirkt haben, daß diese sich deswegen zum Trinken entschloß und zur Wasserflasche griff, um sie zu öffnen. Ob und inwieweit dabei der Wunsch eine Rolle mitgespielt haben mag, durch die Beseitigung des Durstgefühls das körperliche Wohlbehagen herzustellen, kann auf sich beruhen. Denn bei der festgestellten Beschäftigungsweise der Klägerin zu 1) ist jedenfalls anzunehmen, daß die beabsichtigte Befriedigung ihres betriebsbedingten Durstgefühls wesentlich der Erhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit dienen sollte.

Hieraus folgt, daß die Klägerin zu 1) am 26. September 1956 einen Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO erlitten hat, für dessen Folgen die Beklagte entschädigungspflichtig ist. Da das angefochtene Urteil sonach auf einer unrichtigen Anwendung dieser Vorschrift beruht, ist die Revision begründet.

Der Senat war auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Voraussetzungen für die Gewährung einer Entschädigung sind bei der Art und Schwere der Verletzung gegeben. Der Entschädigungsanspruch der Klägerin zu 1) ist dem Grunde nach gerechtfertigt. Gemäß § 130 Satz 1 SGG war daher, wie geschehen, zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297131

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