Leitsatz (amtlich)

Ein Arbeitsunfall liegt vor, wenn jemand, um seinen durch die betriebliche Tätigkeit erzeugten Durst zu löschen, wie üblich aus der mitgebrachten Flasche eines Arbeitskollegen trinkt, in der sich jedoch infolge eines Versehens statt des durststillenden Getränks eine giftige Flüssigkeit befindet.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Oktober 1967 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2), J B (B.), war als Kernmacher in einer Gießerei beschäftigt. Wegen der von dieser Tätigkeit ausgehenden Hitze- und Staubeinwirkungen erhielten die in der Gießerei Beschäftigten vom Unternehmen kostenlos Tee. Sie konnten sich ferner im Betrieb Bier und nichtalkoholische Getränke kaufen. Der mit B. in der Gießerei beschäftigte Kernmacher T pflegte seinen Durst durch mitgebrachten Most zu stillen. Aus der Bierflasche, in die seine Mutter den Most täglich füllte, tranken auch seine Arbeitskollegen, teils mit seinem ausdrücklichen, teils in stillschweigend unterstelltem Einverständnis.

In der Gießerei wurden Formlack und Leinöl sowie - zur Reinigung der Maschinen - "Verdünnung" verwendet. Der Formlack lagerte in großen Fässern, welche die Aufschrift "Feuergefährlich" trugen, im Hof des Betriebs. Die Verdünnung und das Leinöl waren in nicht gekennzeichneten Kannen vor der Bude des in der Gießerei tätigen Meisters abgestellt. Seit Mai 1961 stand dort ferner ein etwas größerer unbeschrifteter Kanister; in diesem befand sich eine Probesendung Formlack "A", welcher sich aus 55 Vol% 1,2 Dichloräthan und 45 Vol% Methanol zusammensetzte.

Am 19. Juni 1962 wollte T von der vor der Meisterbude gelagerten Verdünnung zum Reinigen seines Mopeds etwas an sich nehmen. In Wirklichkeit füllte er in seine leergetrunkene Bierflasche aus dem daneben stehenden Kanister Formlack ab. Nach Beendigung seiner Schicht um 24,00 Uhr stellte er zu Hause die Flasche unter die Kellertreppe. Nach der Nachtruhe half er seinen Eltern bei der Heuernte. Von dieser Arbeit kehrte er gegen 14,30 Uhr nach Hause zurück. Seine Mutter hatte ihm inzwischen die Vespertasche für seine um 15,00 Uhr beginnende Schicht gerichtet. In der Annahme, daß T die Bierflasche, welche sie unter der Kellertreppe gefunden hatte, selbst mit Most gefüllt habe, packte sie diese in die Vespertasche. T hängte die Tasche nach Arbeitsbeginn an einen Nagel in der Nähe seines Arbeitsplatzes. B., welcher in der sich mit der Spätschicht überschneidenden Frühschicht von 6,50 bis 16,28 Uhr arbeitete und am 20. Juni 1962 morgens und mittags je eine Flasche Bier getrunken hatte, trank gegen 15,30 Uhr, ohne T zu fragen, aus dessen Bierflasche. Er starb am 22. Juni 1962 nach einem Kreislaufkollaps an einer Lähmung des Atemzentrums. Der Tod ist nach dem Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts K vom 12. November 1962 auf das Trinken des Formlacks zurückzuführen. T wurde von der Anklage fahrlässiger Tötung mit der Begründung freigesprochen, daß er sich zwar unvorsichtig verhalten habe, den Erfolg aber nicht habe voraussehen können.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 26. April 1963 die begehrten Hinterbliebenenentschädigungen, weil B. sich die zum Tode führende Vergiftung durch eigenmächtiges Handeln, welches nicht mehr als Ausfluß der betrieblichen Tätigkeit angesehen werden könne, zugezogen habe.

Das Sozialgericht Karlsruhe hat durch Urteil vom 23. Juli 1965 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, den Klägern Leistungen aus der Unfallversicherung zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat durch Urteil vom 25. Oktober 1967 die Berufung der Beklagten, soweit sie das Sterbegeld betrifft, als unzulässig verworfen, im übrigen als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:

Das auf Befriedigung des Durstgefühls gerichtete, tödlich endende Trinken aus der Bierflasche des Arbeitskollegen T sei dem versicherten Beschäftigungsverhältnis Bs. zuzurechnen. Die erste Bedingung für den Geschehensablauf sei in dem Unternehmen dadurch gesetzt worden, daß der etwas größere Kanister mit Formlack "A", dessen äußerst giftiger Inhalt weder dem Gießereileiter noch dem in der Gießerei tätigen Meister bekannt gewesen sei, neben die Verdünnung und Leinöl enthaltende Kannen gestellt worden sei und sich auf dem Kanister keine über seinen Inhalt Aufschluß gebende Beschriftung befunden habe. Daß von dieser gefährlichen Flüssigkeit etwas in einer Bierflasche des Arbeitskollegen T an dessen Arbeitsplatz gelangt sei, sei allerdings nicht dem Unternehmen zuzurechnen. Die von diesem gesetzte erste Bedingung für den Geschehensablauf habe jedoch fortgewirkt. Dem versicherten Beschäftigungsverhältnis seien ferner zuzurechnen der durch die Art der Tätigkeit in der Gießerei bedingte Drang zur Befriedigung des Durstgefühls und die aus der Zusammenarbeit mit T hervorgegangene Kameradschaft, die es B. gestattet habe, von dem von T mitgebrachten Most zu trinken. Entgegen der Meinung der Beklagten sei es versicherungsrechtlich unschädlich, daß es sich bei dem von B. vermeintlich getrunkenen Most um ein alkoholisches Getränk handele, denn Most werde nicht nur im Landesteil Baden, sondern auch in Württemberg vorwiegend in ländlichen Kreisen als ein auch unter den Hitzeeinwirkungen der Erntezeit durststillendes Getränk nach weit verbreiteter eigener Herstellung getrunken. Es bestehe kein Anhalt dafür, daß es B. nicht um die Befriedigung des Durstgefühls, sondern allein oder überwiegend um den Genuß eines alkoholischen Getränks gegangen sei. Ein kräftiger Schluck Most sei auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß B. im Laufe der Arbeitsschicht bereits Bier getrunken habe, bei einem trinkgewohnten Mann nicht geeignet, eine alkoholisierende, die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Wirkung hervorzurufen. Das erst nach dem Schluck aus der Flasche auffällige, auf ein Betrunkensein hinweisende Verhalten Bs. finde seine Erklärung in der Menge des im "A" enthaltenen Methanols. Entgegen der Ansicht der Beklagten könne nicht von einem unerlaubten Schluck aus der Flasche gesprochen werden, denn nach der Bekundung des Arbeitskollegen T hätte er auch am Tage des Unfalls eine etwaige Bitte Bs., von dem vermeintlich mitgebrachten Most trinken zu dürfen, nicht abgeschlagen. Eine weitere Bedingung habe schließlich B. selbst gesetzt, indem er, ohne sich von dem tatsächlichen Inhalt der Bierflasche zu überzeugen, aus dieser getrunken habe. Bei einer Gesamtbetrachtung sämtlicher Bedingungen, welche zu dem Unfall geführt hätten, wögen die der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnenden so schwer, daß sie als rechtlich wesentlich für den eingetretenen Tod anzusehen seien.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sei die fahrlässige Lagerung des Kanisters mit dem gefährlichen Formlack durch die Handlungen T und seiner Mutter in den Hintergrund gedrängt worden; diese hätten die durch das Unternehmen gesetzte Kausalkette im Rechtssinn unterbrochen. Der verhängnisvolle Schluck aus der Bierflasche sei kein betriebsbedingter Vorgang gewesen; B. habe damit nur eine Gelegenheit wahrgenommen, welche sich für ihn aus der vermuteten Gefälligkeit eines Arbeitskollegen ergeben habe. Unzweifelhaft müsse ein Arbeitsunfall verneint werden, wenn T den tödlichen Schluck aus der Flasche getan hätte. Für seinen Arbeitskollegen B. könne nichts anderes gelten. Die dursterregende Tätigkeit in der Gießerei habe B. nicht genötigt, ein alkoholisches Getränk zu sich zu nehmen. Alkoholgenuß bei der Betriebstätigkeit sei wegen seiner Gefährlichkeit mit Recht verpönt. Das Trinken badischen Mostes, welcher erfahrungsgemäß, wie gerichtsbekannt sein dürfte, gefährlicher sei als gewöhnliches Flaschenbier, sei bisher in der Rechtsprechung nicht als betriebsbedingt angesehen worden.

Die Kläger halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil, soweit es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen hat, aufzuheben und insoweit die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert und keine Anträge gestellt.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Mit Recht hat das Berufungsgericht im Hinblick auf die von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen angenommen, daß B. bei Befriedigung seines Durstgefühls ausnahmsweise unter Versicherungsschutz gestanden hat, weil dieses durch die betriebliche Betätigung hervorgerufen worden und das Löschen des Durstes zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit bestimmt gewesen ist (BSG 12, 247, 249 ff; SozR Nr. 26 zu § 543 RVO aF, Nr. 41 zu § 542 RVO aF). Der Einwand der Revision, diese Rechtsfolge sei nicht gegeben, weil B. ein alkoholisches Getränk habe zu sich nehmen wollen, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Nach den mit Revisionsrügen nicht rechtswirksam angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat ein kräftiger Schluck Most, wie er am Unfallort und dessen Umgebung in häuslicher Zubereitung hergestellt zu werden pflegt, bei einem dieses Getränk gewöhnten Menschen nicht eine die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Wirkung.

Der Versicherungsschutz ist nicht deshalb ohne weiteres entfallen, weil B. aus der Flasche eines Arbeitskollegen getrunken hat. Zwar hätte, wie die Revision mit Recht annimmt, T nicht unter Versicherungsschutz gestanden, wenn er selbst in der Spätschicht des 20. Juni 1962 den verhängnisvollen Schluck aus seiner Bierflasche getan hätte, weil in diesem Fall der Unfall rechtlich wesentlich auf Umstände zurückzuführen wäre, welche dem unversicherten persönlichen Lebensbereich T zuzurechnen sind (vgl. RVA AN 1888, 290 Nr. 567; AN 1891, 251 Nr. 1042; EuM 4, 259; SG München, Breithaupt 1954, 779). Diese Rechtsfolge läßt sich jedoch nicht ohne weiteres auf den vorliegendenfalls zu entscheidenden Sachverhalt übertragen. Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erstreckt sich auch auf Gefahren, denen der Verunglückte bei seiner betrieblichen Tätigkeit durch fahrlässiges Verhalten der Mitarbeiter ausgesetzt ist (vgl. RVA AN 1890, 508 Nr. 886; Breithaupt 1918/19, 271; EuM 16, 81; 18, 273; 19, 76; RVO-Mitgl.-Komm., Band III, 1930, S. 59 ff). Ein solcher Fall liegt hier vor. Zwar ist, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, der tödlich endende Unfall letztlich dadurch eingetreten, daß B. nach der seinem Arbeitskollegen T gehörenden Bierflasche gegriffen und daraus getrunken hat, ohne sich vorher von ihrem giftigen Inhalt zu überzeugen. Diesem Handeln liegen jedoch hauptsächlich unternehmensbedingte Umstände, nämlich das durch die Art der betrieblichen Tätigkeit erzeugte Durstgefühl und die aus der Zusammenarbeit im Betrieb erwachsene Kameradschaftlichkeit unter Arbeitskollegen zugrunde, Eine vergleichende Wertung der verschiedenen zum Tode Bs. führenden Umstände ergibt, daß den betriebsbedingten Umständen ein entscheidendes Übergewicht zukommt, diese somit als rechtlich wesentlich anzusehen sind.

Für die Frage des inneren Zusammenhangs mit der betrieblichen Tätigkeit ist hingegen ohne Belang, daß das giftige Mittel, welches B. statt des vermeintlichen Mostes getrunken hatte, aus dem Betrieb stammte, in dem B. beschäftigt war. Ein Arbeitsunfall läge auch vor, wenn T ihm gehörenden Formlack versehentlich in seiner Bierflasche mitgebracht und B. daraus getrunken hätte. Die vom LSG als rechtlich bedeutsam erachtete Tatsache, daß der von T entwendete Formlack eine dem Unternehmen anzulastende Gefahrenquelle gewesen sei, und seine darauf aufbauende, von der Revision bekämpfte Schlußfolgerung, daß dadurch die erste bleibende Ursache für den Tod Bs. gesetzt worden sei, ist daher für die Entscheidung des Rechtsstreits ohne Bedeutung.

Da das Berufungsgericht den inneren Zusammenhang des Todes des Ehemannes der Klägerin zu 1) mit dessen betrieblicher Tätigkeit im Ergebnis zu Recht bejaht hat, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669854

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