Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf Erwerbsunfähigkeitsrente.

Die im Jahre 1948 geborene Klägerin war von 1965 bis 1974 in dem von Ordensschwestern geleiteten St. V … - Hospital in B … vorwiegend als Stationshilfe beschäftigt. Seit 1971 bezog sie einen Arbeitslohn von über 500,-- DM monatlich. Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung wurden entrichtet.

Im März 1974 beantragte die Klägerin die Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente. Nach dem zum Rentenantrag eingeholten vertrauensärztlichen Gutachten leidet die Klägerin seit früher Jugend an einem Schwachsinn vom Grade der Debilität. Aufgrund dieses Gutachtens lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 30. September 1974 ab. Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Detmold durch Urteil vom 12. Oktober 1978 die Beklagte zur Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. Mai 1975 verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt, nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. A … vom 13. Juli 1978 leide die Klägerin seit früher Kindheit an einem Schwachsinn 2. Grades. Wenn sich auch dieser Gesundheitszustand nicht verschlechtert habe, so habe die Fähigkeit der Klägerin, Arbeiten zu verrichten, in starken Maße nachgelassen. Durch diese nachweislich eingetretenen Schwächen sei sie erwerbsunfähig geworden. In ihrer früheren Beschäftigung von 1965 bis 1974 habe die Klägerin nach den Aussagen des Verwaltungsleiters des Hospitals und der Ordensschwester F …, die bis 1978 Stationsschwester gewesen sei, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert geleistet. Soziale Gesichtspunkte seien für die Einstellung der Klägerin bei diesem Krankenhaus nicht allein maßgebend gewesen.

Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung wurde durch Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 1979 zurückgewiesen mit der Begründung, es müsse davon ausgegangen werden, daß die Klägerin beim Eintritt in das Erwerbsleben auf dem angepaßten Arbeitsplatz die diesem entsprechende Leistungen erbringen konnte und hierzu jetzt nicht mehr in der Lage sei. Den ihrem Leistungsvermögen angepaßten Arbeitsplatz habe sie mittlerweile verloren. Den Anforderungen eines modernen Krankenhausbetriebes sei sie nicht mehr gewachsen. Verliere ein Versicherter infolge einer Änderung der Betriebsstruktur seinen ihm angepaßten Arbeitsplatz, so. müsse er als erwerbsunfähig angesehen werden, wenn ihm sonst der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen sei. Im übrigen habe sich auch der Gesundheitszustand der Klägerin im Verlauf ihres Erwerbslebens verschlechtert.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor, der bei der Klägerin bestehende erworbene Schwachsinn 2. Grades sei ein Gebrechen, ein Herabsinken der Erwerbsfähigkeit sei nicht eingetreten. Die Klägerin sei nie in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu arbeiten. Ihren Arbeitsplatz habe die Klägerin nicht wegen der Änderung der Betriebsstruktur verloren, sondern weil der Nachfolger des bisherigen Arbeitgebers nicht bereit und in der Lage gewesen sei, die Klägerin weiterhin unter den bisher unüblichen Bedingungen und vergönnungsweise zu beschäftigen. Die Entlohnung der Klägerin sei kein Tatbestandsmerkmal des § 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO). Erwerbsunfähigkeit habe bereits beim Eintritt in das Beschäftigungsverhältnis im August 1965 vorgelegen. Die Feststellungen des LSG über die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Der medizinische Sachverständige habe auf seinem Sachgebiet keine Verschlechterung festgestellt, demgegenüber habe das LSG ohne eigene medizinische Sachkunde seine Auffassung dem Urteil zugrunde gelegt. Außerdem habe das LSG die Beklagte nicht vorher dazu gehört, welche Schlüsse es aus der Beweisaufnahme ziehen wolle.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. September 1979 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, die Erwerbsfähigkeit während ihrer früheren Beschäftigung ergebe sich zweifelsfrei daraus, daß sie eine hauswirtschaftliche Ausbildung mit Erfolg absolviert und schon früher als Haushaltshilfe bei zwei Familien gearbeitet habe. Als Stationshilfe habe sie eine Arbeitstätigkeit unter den üblichen Arbeitsbedingungen ausgeübt. Die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen seien nicht ausreichend substantiiert.

Die Revision ist unbegründet.

Die Klägerin ist erwerbsunfähig i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO; die Wartezeit von 60 Monaten ist erfüllt. Die für die Klägerin während ihrer Beschäftigung als Stationshilfe entrichteten Pflichtbeiträge sind auf die Erwerbsunfähigkeitsrente anrechenbar, weil zu dieser Zeit keine Erwerbsunfähigkeit bestand. Der Annahme, daß die Klägerin in der Zeit von 1965 bis 1974 erwerbsfähig gewesen ist, steht nicht entgegen, daß die Klägerin nach den ärztlichen Gutachten seit ihrer Kindheit an einem Schwachsinn 2. Grades leidet und der Gesundheitszustand unverändert geblieben ist. Jedoch ist die Frage nach dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nicht nur eine medizinische, sondern vorrangig eine Rechtsfrage (so BSG Urteil vom 26. September 1975 - 12 RJ 208/74 - SozR 2200 § 1247 Nr. 12). In diesem Zusammenhang ist die Beurteilung eines Versicherten durch einen ärztlichen Sachverständigen nur eine Komponente des komplexen Begriffes der Erwerbsfähigkeit. Neben den medizinischen Befunden, Diagnosen und Beurteilungen kommt auch in aller Regel dem Umstand Beweiswert zu, daß ein Versicherter eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat oder noch ausübt. Ist dies der Fall, so kann im Rahmen der Beweiswürdigung Erwerbsfähigkeit selbst dann angenommen werden, wenn die erhobenen medizinischen Befunde für sich allein betrachtet ein anderes Ergebnis nahelegen würden. So kann ein Versicherter auf Kosten seiner Gesundheit und Lebenserwartung eine Erwerbstätigkeit ausüben, zu der er aus ärztlicher Sicht nicht in der Lage ist und von der ihm deswegen auch abgeraten wird. Die medizinische Beurteilung eines Erwerbstätigen schließt nicht aus, daß er Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichtet und auch entsprechend entlohnt wird. Die Folge davon ist das Bestehen von Versicherungspflicht und die Entrichtung wirksamer Beiträge zur Rentenversicherung.

Unter Beachtung dieser Grundsätze ist es nicht zu beanstanden, wenn das LSG sich bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin vorrangig auf das Bestehen des Beschäftigungsverhältnisses stützt und dieser Tatsache den Vorrang gegenüber der Beurteilung durch einen medizinischen Sachverständigen einräumt. Hierzu brauchte das LSG die Beklagte auch nicht vor Erlaß seines Urteils zu hören. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) verpflichtet das LSG nicht, das Ergebnis der Beweiswürdigung mit den Beteiligten im einzelnen zu erörtern. Eine solche Verpflichtung bestand hier umso weniger, als das LSG nicht zu gänzlich neuen, unerwarteten Ergebnissen gekommen ist, sondern sich in der Bewertung des Sachverhalts dem SG angeschlossen hat. Die Beklagte mußte damit rechnen, daß das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung der Tatsache des Bestehens eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses den Vorrang gegenüber einem ärztlichen Gutachten einräumen wird. Sie hatte Gelegenheit, sich dazu zu äußern und von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht.

Ebensowenig ist zu beanstanden, wenn das LSG seine Überzeugung vom "Herabsinken" der Erwerbsfähigkeit i.S. des § 1247 RVO auf eine Zeugenaussage stützt, aus der hervorgeht, daß das Leistungsvermögen der Klägerin im Verlauf ihrer Beschäftigung geringer geworden ist. Auch insoweit ist das LSG für seine Überzeugungsbildung nicht auf ärztliche Gutachten beschränkt.

Die Beschäftigung der Klägerin als Stationshilfe könnte der Annahme von Erwerbsunfähigkeit jedoch dann nicht entgegenstehen, wenn das Beschäftigungsverhältnis vergönnungsweise begründet wurde. Leistet allerdings ein Versicherter auf einem ihm angepaßten Arbeitsplatz aufgrund eines den betriebsüblichen Bedingungen entsprechenden Beschäftigungsverhältnisses eine Arbeit, mit der er ein Arbeitseinkommen von mehr als geringfügigem Wert erzielt, so liegt regelmäßig keine vergönnungsweise Tätigkeit, sondern eine versicherungspflichtige Beschäftigung vor. Unter Beachtung dieser Grundsätze konnte das LSG aus der Dauer der Beschäftigung der Klägerin und insbesondere der Höhe des Arbeitsentgelts zu der Feststellung gelangen, daß der wirtschaftliche Wert der Arbeitsleistung der Klägerin als Stationshilfe nicht nur geringfügig war und eine vergönnungsweise Beschäftigung nicht vorlag. Damit bestand Erwerbsfähigkeit, die später so weit herabgesunken ist, daß nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO eingetreten ist.

Nach alledem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

- 7 -4 RJ 121/79

Bundessozialgericht

Verkündet am 29. Sept. 1980

 

Fundstellen

Haufe-Index 518609

Breith. 1981, 693

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