Leitsatz (amtlich)

Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel iS der gesetzlichen KV (Abweichung von BSG 1977-11-10 3 RK 7/77 = BSGE 45, 133).

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum Anspruch auf Ausstattung des Versicherten mit einem Blindenführhund gehören auch seine Unterhaltskosten.

 

Normenkette

RVO § 182b Fassung: 1974-08-07; RKG § 20

 

Verfahrensgang

SG Duisburg (Entscheidung vom 13.11.1978; Aktenzeichen S 5 Kn 87/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem blinden Kläger auch für die Zeit ab Oktober 1977 die Unterhaltskosten für seinen Blindenführhund zu erstatten hat.

Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Die Beklagte gewährte ihm bis einschließlich September 1977 aus Mitteln der knappschaftlichen Krankenversicherung einen monatlichen pauschalen Aufwendungsersatz zu den Kosten des laufenden Unterhalts des benötigten Blindenführhundes. Die Weitergewährung entsprechender Zahlungen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 13.Januar 1978 ab, weil nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. November 1977 - 3 RK 7/77 - die Übernahme von Anschaffungs- und Unterhaltskosten für einen Blindenhund nicht in die Leistungspflicht der Krankenkasse falle.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch leitete die Beklagte mit Zustimmung des Klägers - ohne Erlaß eines Widerspruchsbescheides - dem Sozialgericht (SG) als Klage zu (§ 85 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Das SG wies die Klage unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 10. November 1977 ab (Urteil vom 13. November 1978).

Hiergegen hat der Kläger mit Zustimmung der Beklagten die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) iVm §§ 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c, 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil sowie den Bescheid

der Beklagten vom 13. Januar 1978 aufzuheben

und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten

für den Unterhalt seines Blindenführhundes ab

Oktober 1977 in Höhe des sich aus § 14 des

Bundesversorgungsgesetzes ergebenden

Betrages zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte und formgerecht eingelegte Sprungrevision des Klägers ist begründet.

Das SG hat nicht festgestellt, ob die dem Kläger von der Beklagten bis einschließlich September 1977 erstatteten Kosten für den Unterhalt seines Blindenführhundes ohne Leistungsbescheid lediglich durch "schlichtes" Verwaltungshandeln im Sinne der Entscheidung des 3. Senats des BSG vom 23. November 1966 (BSGE 25, 280; vgl dazu aber auch die im Urteil des gleichen Senats vom 20. Dezember 1978 - 3 RK 55/78 - aufgezeigten Bedenken) oder durch jeweils zeitlich ausdrücklich begrenzte Leistungsbescheide oder durch einen begünstigenden und für die Beteiligten im Sinne des § 77 SGG bindenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung gewährt worden sind. Im letzteren Fall hätte das von der Beklagten im angefochtenen Bescheid für die Leistungseinstellung lediglich angeführte Urteil des BSG vom 10. November 1977 - 3 RK 7/77 - gemäß § 1744 RVO eine neue Prüfung zu Lasten des Klägers ohnehin nicht rechtfertigen können. Die insoweit als Rechtsgrundlage für eine Aufhebung des Verwaltungsaktes allein in Betracht kommende Vorschrift des Art I § 48 Abs 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) - SGB 10 - ist erst am 1. Januar 1981 in Kraft getreten und nur auf nach dem 31. Dezember 1980 aufgehobene Verwaltungsakte anwendbar (Art II § 40 Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGB 10).

Selbst wenn aber die bisherige Leistung an den Kläger nicht in Form eines rechtsverbindlichen Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bewilligt wurde, ist die Beklagte zur Weitergewährung verpflichtet, weil der Blindenführhund ein "anderes Hilfsmittel" im Sinne des § 182b Satz 1 RVO ist, auf das der bei der Beklagten versicherte Kläger (vgl § 20 RKG) Anspruch hat, um seine körperliche Behinderung als Blinder auszugleichen. Der erkennende Senat vermag der im angefochtenen Bescheid der Beklagten angeführten Entscheidung des 3. Senats des BSG vom 10. November 1977 (BSGE 45, 133 = SozR 2200 § 182b Nr 4) nicht zu folgen, wonach die Hilfsmitteleigenschaft des Blindenführhundes zu verneinen sei, weil als Funktionsstörung nur der Verlust der Sehfähigkeit berücksichtigt werden könne, die "Funktionsweise" des Hundes aber dem Blinden keinen dem Sehen vergleichbaren Ersatz verschaffe.

Auch wenn man mit der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG bei Hilfsmitteln danach unterscheidet, ob sie nur mittelbar oder ob sie unmittelbar auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, muß der Blindenführhund zu letzteren gezählt werden, die nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in den Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung fallen. Ein derartiges "unmittelbares" Hilfsmittel ist auch dann gegeben, wenn es nicht direkt am Körper ausgleichend wirkt (BSGE 45, 133, 134; SozR 2200 § 182b Nrn 12, 13 und 16). Es genügt vielmehr, daß das Hilfsmittel die beeinträchtigte bzw erschwerte Funktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (SozR 2200 § 182b Nrn 12, 13 und 17). Das Sehen ermöglicht - ua - die Orientierung im Freien und in geschlossenen Räumen und bezweckt insoweit auch unmittelbar die normale - unbehinderte - Fortbewegung. Für die Anerkennung als Hilfsmittel im Sinne des § 182b Satz 1 RVO kann deshalb hier nur maßgeblich sein, daß der Blindenführhund für die durch die Blindheit ausgefallene oder zumindest erschwerte Möglichkeit der Umweltkontrolle einen Funktionsausgleich bietet, der unmittelbar diese Behinderung betrifft und nicht erst bei den Folgen der Behinderung in bestimmten Lebensbereichen einsetzt (vgl hierzu auch Urteil des 11. Senats des BSG in SozR 2200 § 182b Nr 13 und Urteil des 3. Senats in SozR 2200 § 182b Nr 17).

Der 3. Senat des BSG hat es für die Bejahung eines Hilfsmittels gemäß § 182b Satz 1 RVO genügen lassen, daß Fahrstühle für die erschwerte Möglichkeit der Fortbewegung einen unmittelbaren Funktionsausgleich im Sinne einer Ergänzung oder Erleichterung bieten (SozR 2200 § 182b Nrn 9, 12 und 16). Dies muß gleichermaßen auch für den Blindenführhund gelten, weil dieser ebenfalls die durch die Blindheit erschwerte Orientierungsfähigkeit und damit die erschwerte Möglichkeit der unbehinderten Fortbewegung im genannten Sinne ausgleicht. Der erkennende Senat vermag insoweit keine sachlich vertretbare und rechtlich relevante Differenzierung zu erkennen - zumal unter Berücksichtigung der Ausführungen des 3. Senats des BSG im Urteil vom 26. März 1980 (SozR 2200 § 182b Nr 17), wonach die Voraussetzungen des § 182b Satz 1 RVO auch dann erfüllt sind, wenn das Hilfsmittel "überhaupt dem Ausgleich körperlicher Behinderungen dient". Der 3. Senat ist dort auch der Entscheidung des erkennenden Senats vom 24. August 1979 (SozR 2200 § 182b Nr 9) gefolgt, die darauf abgestellt hat, ob durch das Hilfsmittel der zur Verfügung stehende Freiheitsraum hinsichtlich der Grundbedürfnisse des Behinderten erweitert wird. Nach Auffassung des erkennenden Senats ist dies - bezogen auf den Führhund - für einen Blinden zu bejahen, eben weil durch den Hund die verlorene, zur Umweltkontrolle aber erforderliche Sehfähigkeit jedenfalls nach der genannten Rechtsprechung ausgeglichen wird. In diesem Sinne ermöglicht der Führhund allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens - so insbesondere die Teilnahme des Blinden am Straßenverkehr - und dient damit elementaren Grundbedürfnissen.

Der erkennende Senat konnte die Hilfsmitteleigenschaft eines Blindenführhundes ohne Anrufung des Großen Senats des BSG (§ 42 SGG) entscheiden, weil der 3. Senat des BSG auf Anfrage des erkennenden Senats mitgeteilt hat, daß er an seiner im Urteil vom 10. November 1977 aaO insoweit vertretenen gegenteiligen Rechtsauffassung nicht festhält. Im übrigen hat der 3. Senat bereits in jener Entscheidung - und insoweit auch nach Auffassung des erkennenden Senats zutreffend - die Anerkennung eines Blindenführhundes als Hilfsmittel nicht an dessen allgemeiner Begriffsbestimmung scheitern lassen.

Bereits die in § 182b Satz 1 RVO normierte Verpflichtung der Krankenkassen zur "Ausstattung" des Berechtigten mit dem Hilfsmittel gebietet, daß die Beklagte - entsprechend dem in der gesetzlichen Krankenversicherung vorherrschenden Sachleistungsprinzip - den Blindenführhund dem Kläger in einsatzfähigem Zustand zur Verfügung zu stellen hat. Diese am Gesetzeszweck orientierte Auslegung wird auch durch den Wortlaut des Satzes 2 der Vorschrift bestätigt, nach dem der Anspruch des Versicherten auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung sowie die Ausbildung im Gebrauch der Hilfsmittel beinhaltet. Wie der 3. Senat mit Urteil vom 24. April 1979 (SozR 2200 § 182b Nr 11) zu Recht betont hat, soll mit dieser Regelung das Hilfsmittel in einem unmittelbar verwendungsfähigen Zustand für den Versicherten bereitstehen. Daraus folgt, daß der Ausstattungsanspruch des Klägers auch die - hier allein streitigen - Unterhaltskosten für seinen Blindenführhund umfaßt.

Da sich der nach alledem auch über den 30. September 1977 hinaus begründete Sachleistungsanspruch des Klägers infolge der rechtswidrigen Leistungsverweigerung der Beklagten in einen Erstattungsanspruch umgewandelt hat (vgl BSG-Urteil vom 24. April 1979 aaO), ist der angefochtene Bescheid aufzuheben und dem weiteren Leistungsbegehren des Klägers dem Grunde nach stattzugeben (§§ 130 Satz 1, 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 206

Breith. 1981, 938

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