Wie oben erläutert, differenziert das Unionsrecht nicht nach dem Grad der Behinderung. Dies führt zu dem folgenden Problem: Ab einem Grad der Behinderung (GdB) von weniger als 50 gilt man nach deutschem Recht nicht als schwerbehindert nach § 2 Abs. 2 SGB IX. Viele der Regeln des Behindertenschutzes greifen erst ab einem GdB von 50. Beispielsweise bekommen schwerbehinderte Menschen als Ausgleich besondere Vorzüge gemäß § 164 Abs. 4 SGB IX. Dazu zählen die Ausstattung des Arbeitsplatzes mit technischen Hilfen (Nr. 5) und die bevorzugte Berücksichtigung bei innerbetrieblichen Angeboten der Weiterbildung und Förderung (Nr. 2). Unabhängig vom GdB erwartet das Unionsrecht hier aber auch für behinderte Menschen, die nicht schwerbehindert sind, einen angemessenen Schutz (Art. 5 2000/78 EG-RL). Die Richtlinie 2000/78 EG ist eine der inhaltgebenden Richtlinien für das AGG. Art. 5 2000/78 EG-RL verlangt, dass der Gesetzgeber die Vorkehrungen trifft, um einen angemessenen Behindertenschutz zu gewährleisten. Die Norm hat der deutsche Gesetzgeber indes nicht in nationales Recht umgesetzt. Das BAG reagierte hierauf, indem es im "HIV-Fall" § 241 Abs. 2 BGB, die allgemeine Rücksichtsnorm, als Quelle für diese Pflicht erklärte.[1]

Unionsrechtlich gilt der Grundsatz des "effet utile". Hiernach muss das Unionsrecht so weit wie möglich zur Anwendung kommen. Das Bundesarbeitsgericht muss bei seiner Rechtsprechung dieses Gebot berücksichtigen. Hiermit begründet sich, weshalb dieses § 241 Abs. 2 BGB herangezogen hat. Bei vertraglichen Schuldverhältnissen findet § 241 Abs. 2 BGB generell Anwendung. Hierzu zählen auch Arbeitsverhältnisse. Beide Parteien eines Schuldverhältnisses sind gemäß § 241 Abs. 2 BGB dazu verpflichtet, bei der Durchführung des Schuldverhältnisses auf die jeweilige andere Partei Rücksicht zu nehmen, wenn das aufgrund des Inhalts des Schuldverhältnisses geboten erscheint. Das bedeutet, dass eine Missachtung der gebotenen Rücksichtnahme gegenüber schwerbehinderten Menschen zu einer Verletzung arbeitgeberseitiger Pflichten führen kann. Das wiederum kann zur Unwirksamkeit der Kündigung führen oder Schadensersatzpflichten auslösen. Anders als im Geltungsbereich des AGG genügt ein immaterieller Schaden in diesem Fall jedoch nicht. Nur materielle Schäden müssen ersetzt werden. Immaterielle Schäden beziehen sich auf immaterielle Güter wie den persönlichen Achtungsanspruch. Materielle Güter hingegen sind das Vermögen und das Eigentum. Zur Klarstellung sei aber betont, dass im Anwendungsbereich des AGG sich auch für nicht schwerbehinderte Menschen ein immaterieller Entschädigungsanspruch gemäß § 15 Abs. 2 AGG ergeben kann.

[1] BAG, NZA 2014 S. 372. Siehe zum Sachverhalt des HIV-Falls bereits oben.

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