Rz. 88

Beabsichtigt der Arbeitgeber eine nach § 17 Abs. 1 KSchG anzeigepflichtige Massenentlassung, hat er den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG rechtzeitig zu unterrichten und die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen. § 17 Abs. 2 KSchG setzt das in Art. 2 der MERL vorgesehene Konsultationsverfahren mit den Arbeitnehmervertretern im Falle einer anzeigepflichtigen Massenentlassung um. Mit welchen "Arbeitnehmervertretern" das Konsultationsverfahren durchzuführen ist, bestimmt sich nach nationalem Recht (Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b MERL). Der deutsche Gesetzgeber hat bestimmt, dass der Betriebsrat "Arbeitnehmervertreter" i. S. d. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 lit. b, Art. 2 der Richtlinie ist. § 17 Abs. 2 KSchG sieht betriebsverfassungsrechtliche Auskunfts- und Beratungsrechte des Betriebsrats in personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten vor, die – an sich systemwidrig – im KSchG geregelt sind und neben den Mitwirkungsrechten nach dem BetrVG (z. B. §§ 106 ff., 111 ff., 92, 102 BetrVG) bzw. nach anderen Vorschriften (z. B. § 178 Abs. 2 SGB IX) stehen.

 

Rz. 89

Nach der sog. Beherrschungsklausel des § 17 Abs. 3a KSchG – welcher Art. 2 Abs. 4 MERL entspricht – bestehen die Auskunfts- und Beratungspflichten des Arbeitgebers auch dann, wenn die Entscheidung über die Entlassungen von einem den Arbeitgeber beherrschenden Unternehmen getroffen wurde. Darunter ist jedes Unternehmen zu verstehen, das mit dem Arbeitgeber durch Beteiligungen an dessen Gesellschaftskapital oder durch andere rechtliche Verbindungen verbunden ist, die es ihm ermöglichen, einen bestimmenden Einfluss in den Entscheidungsorganen des Arbeitgebers auszuüben und ihn zu zwingen, Massenentlassungen in Betracht zu ziehen oder vorzunehmen.[1] Der Arbeitgeber kann sich nicht darauf berufen, dass das für die Entlassung verantwortliche Unternehmen die notwendigen Auskünfte nicht übermittelt hat. Das Entstehen der Verpflichtung des Arbeitgebers, Konsultationen über die beabsichtigten Massenentlassungen aufzunehmen, setzt nicht voraus, dass dieser bereits in der Lage ist, den Arbeitnehmervertretern alle Auskünfte nach Art. 2 Abs. 3 UAbs. 1 lit. b MERL zu gewähren.[2] § 17 Abs. 3a KSchG ist insbesondere im Kontext deutscher und internationaler Unternehmensgruppen von Bedeutung. Wird z. B. von der ausländischen Konzernmutter die Massenentlassung beschlossen, hat sich die deutsche Arbeitgebergesellschaft die notwendigen Informationen zu beschaffen. Sie kann sich nicht auf die Unmöglichkeit der Erfüllung ihrer aus § 17 Abs. 2 KSchG folgenden betriebsverfassungsrechtlichen Pflichten berufen, wenn die Muttergesellschaft die Informationen nicht herausgibt oder die Weisung erteilt, keine Informationen an Arbeitnehmervertreter weiterzugeben. Erfüllt die Tochtergesellschaft die Auskunfts- und Beratungspflichten nicht, kann sie letztlich keine wirksame Anzeige erstatten, sodass die Entlassungen unwirksam sind. Allerdings entsteht die Pflicht zur Konsultation mit dem Betriebsrat (vgl. § 17 Abs. 2 KSchG) frühestens, wenn feststeht, in welchem Unternehmen es zu einer Massenentlassung kommen könnte, also welches Unternehmen die Pflichten aus § 17 KSchG treffen.[3]

[1] EuGH, Urteil v. 7.8.2018, C-61/17 u. a., NZA 2020, 1051, Rz. 40 f.
[2] EuGH, Urteil v. 10.9.2009, C-44/08 (Akavan), NZA 2009, 1083, Rz. 50 ff.
[3] EuGH, Urteil v. 10.9.2009, C-44/08 (Akavan), NZA 2009, 1083, Rz. 63; Grau/Sittard, BB 2011, 1845, 1846; Lindemann/Trebeck, ArbRAktuell 2011, 214.

5.1 Zuständiger Betriebsrat

 

Rz. 90

Ungeachtet des unionsrechtlich determinierten Verständnisses des Betriebsbegriffs sind die von § 17 Abs. 2 KSchG geforderten Konsultationen bei unionsrechtskonformem Verständnis dieser Norm mit der nach nationalem Recht zuständigen "Arbeitnehmervertretung" durchzuführen; dies ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Uabs. 1 lit b) MERL, der den Mitgliedstaaten Spielraum hinsichtlich der Frage des "Wie" (nicht des "Ob") der Bestellung der zuständigen Arbeitnehmervertretung einräumt. Besteht ein nach nationalem Recht gewähltes Gremium, das (auch) die Arbeitnehmer des Betriebs i. S. d. § 17 KSchG repräsentiert, muss der Arbeitgeber dieses Gremium beteiligen.[1]

 

Rz. 91

Nach § 17 Abs. 2 KSchG besteht die Konsultationspflicht für den Arbeitgeber gegenüber dem "Betriebsrat". Soll die Massenentlassung in einem Betriebsteil durchgeführt werden, der betriebsverfassungsrechtlich einem Hauptbetrieb zugeordnet ist, ist wegen der Rückverweisung auf das nationale Recht der Betriebsrat des Hauptbetriebs, der auch die Arbeitnehmer des Betriebsteils repräsentiert, zu beteiligen.[2] Dies gilt entsprechend für einen Gemeinschaftsbetrieb oder kollektivrechtlich errichtete Arbeitnehmervertretungen nach § 3 BetrVG.[3] Das Konsultationsverfahren ist durchzuführen, wenn (noch) eine beteiligungsfähige Arbeitnehmervertretung besteht. Insoweit reicht ein Restmandat (§ 21b BetrVG) des zuständigen Betriebsrats im Falle der Betriebsstilllegung aus.[4]

 

Rz. 92

Als Betriebsrat sind auch die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BetrVG gebildeten Arbeitne...

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