Rz. 953

Der Rückgriff auf § 1 Abs. 5 KSchG setzt zunächst eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG voraus. Welcher Fall einer Betriebsänderung vorliegt, spielt dabei keine Rolle; ein und dieselbe Maßnahme des Unternehmers kann durchaus mehrere Tatbestände des § 111 BetrVG erfüllen (BAG, Urteil v. 21.2.2001, 2 AZR 39/00[1]).

 

Rz. 954

Insofern ist zu berücksichtigen, dass eine Betriebseinschränkung i. S. d. § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG nicht unbedingt eine Verringerung der sachlichen Betriebsmittel erfordert, sondern auch durch einen Personalabbau erfolgen kann (LAG Brandenburg, Urteil v. 13.10.2005, 9 Sa 205/05[2]). Voraussetzung für die Annahme einer Betriebsänderung ist allerdings, dass der Personalabbau eine größere Zahl von Arbeitnehmern betrifft; Anknüpfungspunkt sind dabei die Zahlen- und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG.

 

Ein Personalabbau stellt somit eine (interessenausgleichspflichtige) Betriebsänderung dar, wenn

 
  Betriebe mit regelmäßig
 
 
  mindestens 20 und höchstens 60 Arbeitnehmern
mindestens 5 Entlassungen
 
 

mindestens 60 und höchstens 500 Arbeitnehmern

oder

mindestens 25 Entlassungen
 
  mindestens 10 % der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer
 
 
  mindestens 500 Arbeitnehmer
mindestens 30 Entlassungen
vornehmen.  

Bei größeren Betrieben ist ferner Voraussetzung, dass der Personalabbau mindestens 5 % der Belegschaft betrifft.

 

Rz. 955

Diese Zahlen stellen jedoch keine "starren" Vorgaben, sondern eine bloße "Richtschnur" dar. Bei einem geringfügigen Unterschreiten der Schwellenwerte kann eine wertende Betrachtung des Einzelfalls gleichwohl zur Annahme einer Betriebsänderung führen (LAG Brandenburg, Urteil v. 13.10.2005, 9 Sa 205/05[3]).

 

Rz. 956

Die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG werden hinsichtlich größerer Betriebe zudem durch das zusätzliche Erfordernis ergänzt, dass zumindest 5 % der Mitarbeiter der Gesamtbelegschaft von den Kündigungen betroffen sind.[4]

 

Rz. 957

Zu beachten ist ferner, dass die 30-Tages-Frist des § 17 Abs. 1 KSchG im Rahmen des § 111 BetrVG keine Anwendung findet. Maßgeblich ist vielmehr die Gesamtzahl der Arbeitnehmer, die voraussichtlich, wenn auch in mehreren "Wellen" und erst nach Ablauf mehrerer Monate, betroffen sein werden, solange diesen Entlassungen eine übergreifende Planung zugrunde liegt (BAG, Urteil v. 22.1.2004, 2 AZR 111/02[5]).

 

Rz. 958

Soweit ein reiner Personalabbau nach diesen Kriterien eine wesentliche Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG darstellt, können die Betriebspartner einen Interessenausgleich einschließlich Namensliste vereinbaren, der die Rechtsfolgen des § 1 Abs. 5 KSchG auslöst (BAG, Urteil v. 31.5.2007, 2 AZR 254/06[6]).

 

Rz. 959

Die Betriebsänderung muss – anders als in § 125 InsO – nicht bloß geplant sein, sondern tatsächlich stattfinden; § 1 Abs. 5 KSchG erfasst nur betriebsbedingte Kündigungen, die "aufgrund" einer Betriebsänderung ausgesprochen werden. Auf diese Weise soll vermieden werden, dass die Namensliste zur Erleichterung der Kündigung von Personen benutzt wird, deren Weiterbeschäftigung aus Gründen, die in der Person oder dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, nicht mehr gewünscht ist. Eine Namensliste, auf der auch freiwillig ausscheidende Arbeitnehmer benannt werden, um z. B. eine Sperrzeit nach § 159 SGB III auszuschließen, ist daher keine taugliche Basis für die Vermutung dringender betrieblicher Erfordernisse (BAG, Urteil v. 26.3.2009, 2 AZR 296/07[7]). Wird eine geplante Maßnahme im Zuge der Verhandlungen um einen Interessenausgleich so weit abgeschwächt, dass sie keine Betriebsänderung mehr darstellt, gelangt § 1 Abs. 5 KSchG nicht zur Anwendung.[8]

 

Rz. 960

Der Interessenausgleich kann auch eine Betriebsänderung in Form eines Personalabbaus regeln, der lediglich durchgeführt wird, falls es zu Widersprüchen gegen den Übergang von Arbeitsverhältnissen gem. § 613a Abs. 6 BGB kommt (BAG, Urteil v. 24.2.2000, 8 AZR 180/99[9]). Allerdings muss die dann anstehende Betriebsänderung bereits in ihren Einzelheiten feststehen; ein "vorsorglicher" Interessenausgleich ist unwirksam.[10]

[1] ZIP 2001 S. 1825; vgl. auch ErfK/Oetker, 18. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 363.
[2] NZA-RR 2006 S. 69.
[3] NZA-RR 2006 S. 67; LAG Berlin, Urteil v. 7.9.1995, NZA 1996 S. 1284.
[4] Vgl. BAG, Beschluss v. 28.3.2006, 51 ABR 5/05, AP Nr. 12 zu § 112a BetrVG 1972 und Fitting, BetrVG, 30. Aufl. 2016, § 111 BetrVG, Rz. 74 ff.; s. auch ErfK/Kiehl, 18. Aufl. 2018, § 17 KSchG, Rz. 18 und Niklas/Koehler, NZA 2010, S. 913, 915.
[5] AP BetrVG 1972 § 112 Namensliste Nr. 1; Gaul, BB 2004, S. 2686, 2687.
[6] NZA 2007 S. 1307.
[7] BB 2009 S. 2539.
[8] HWK/Quecke, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Rz. 421.
[9] NZA 2000 S. 785.
[10] HWK/Hohenstatt/Willemsen, Arbeitsrecht, 8. Aufl. 2018, § 112 BetrVG, Rz. 8.

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