LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.1.2023, 1 Sa 12/22

Leitsätze (amtlich)

1. Die Eingruppierung einer Altenpflegerin in der Tätigkeit einer Heilerziehungspflegerin als "sonstige Beschäftigte" im Sinne der Entgeltgruppe S 8b Fallgruppe 1 erfordert, dass sie über gleichwertige Fähigkeiten und Erfahrungen wie eine staatlich anerkannte Heilerziehungspflegerin verfügen muss.

2. Der Erwerb von Fähigkeiten und Erfahrungen auf einem eng begrenzten Teilgebiet des Aufgabenbereichs einer Heilerziehungspflegerin genügt für eine Eingruppierung als "sonstige Beschäftigte" nicht. Aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen der Ausbildungen und der Berufsbilder einer Altenpflegerin und Heilerziehungspflegerin sind jedoch Abstufungen bei der Darlegungs- und Beweislast vorzunehmen, wenn es um die streitige Frage der Verwendungsbreite einer Altenpflegerin in der Tätigkeit einer Heilerziehungspflegerin geht.

Sachverhalt

Die Klägerin ist seit November 1988 bei der Beklagten, welches als Unternehmen des Kommunalverbands für Jugend und Soziales Baden-Württemberg eine Trägerin der Behindertenhilfe ist, beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem damaligen BAT. Die Klägerin, welche als Altenpflegerin ursprünglich in der Vergütungsgruppe Kr IV beschäftigt war, wurde zu Beginn ihrer Beschäftigung in verschiedenen Wohngruppen als Pflegehelferin eingesetzt. Nach der Geburt zweier Kinder und anschließendem Erziehungsurlaub absolvierte sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin und wurde anschließend als Gruppenleiterin in einer Gruppe im Bereich SGB XI, einem Bereich, in dem schwerstbehinderte pflegebedürftige Menschen versorgt werden, beschäftigt.

Im Jahr 2011 wechselte sie dann in den Bereich SGB IX, in welchem behinderte Menschen bis max. zum Pflegegrad 3 betreut werden. Die Bereiche unterscheiden sich in der Praxis dadurch, dass im Bereich SGB XI eine ständige Nachtwache benötigt wird, während im Bereich SGB IX eine dezentrale Rufbereitschaft genügt. Man vereinbarte, dass die Klägerin ihre Funktion als Gruppenleiterin abgebe und künftig nach der Vergütungsgruppe Kr 7a Stufe 5 der Kr-Anwendungstabelle TVöD vergütet werde. Zum 1.1.2017 wurde sie dann in die EG P 7 Stufe 6 übergeleitet. Seit 2011 nahm sie zudem an zahlreichen Fortbildungskursen teil, die den Umgang mit behinderten Menschen zum Inhalt hatten.

Ende 2020 machte die Klägerin ihre Eingruppierung nach der Entgelttabelle für den Sozial- und Erziehungsdienst geltend. Nachdem die Beklagte dies ablehnte, klagte sie auf Vergütung nach EG S 8b, hilfsweise S 8a. Sie begründete dies damit, dass sie zwar keine ausgebildete Heilerziehungspflegerin sei, jedoch sonstige Beschäftigte i. S. d. EG S 8b, da sie aufgrund gleichwertiger Fähigkeiten und ihrer Erfahrungen entsprechende Tätigkeiten ausübe.

Die Entscheidung

Die Klage hatte vor dem LAG Erfolg. Das Gericht entschied, dass die Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin ab Januar 2021 eine Vergütung nach der EG S 8b zu gewähren.

Das Gericht urteilte zunächst, dass die gesamte Tätigkeit der Klägerin einen "großen" Arbeitsvorgang bilde. Es begründete dies mit der vom BAG vorgenommen Auslegung von Arbeitsvorgängen: für die Beurteilung, ob eine oder mehrere Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsergebnis führten, sei eine natürliche Betrachtungsweise und die durch den Arbeitgeber geschaffene Arbeitsorganisation ausschlaggebend. Insbesondere könnten Einzeltätigkeiten nicht zusammengefasst werden, wenn die verschiedenen Arbeitsschritte von vornherein organisatorisch getrennt seien. Allerdings reichten hierfür die theoretische Möglichkeit, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben isoliert auf andere Beschäftigte zu übertragen, nicht aus. Dem Arbeitsvorgang hinzuzurechnen seien sog. Zusammenhangstätigkeiten, d. h. Tätigkeiten, die aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit bestimmten Aufgaben eines Beschäftigten zur Vermeidung einer tarifwidrigen "Atomisierung" der Arbeitseinheiten nicht abgetrennt werden dürften. Die tarifliche Wertigkeit der verschiedenen Einzeltätigkeiten oder Arbeitsschritte bleibe zunächst außer Betracht. Und erst nachdem die Bestimmung des Arbeitsvorgangs erfolgt sei, sei dieser anhand des in Anspruch genommenen Tätigkeitsmerkmals zu bewerten.

Im vorliegenden Fall würde nach Auffassung des LAG eine Aufteilung der Tätigkeiten der Klägerin in administrative Tätigkeiten, pflegerische Tätigkeiten, heilerzieherische Tätigkeiten und Hilfstätigkeiten eine tarifwidrige "Atomisierung" ihrer Tätigkeit darstellen; denn die Klägerin sei die einzige Beschäftigte, die während der jeweiligen Schicht für die Belange der behinderten Menschen Sorge trage. Da in der Wohngruppe das sog. Bezugspersonensystem gelte, sei die Klägerin für sämtliche Belange der behinderten Menschen während ihrer Schicht verantwortlich. In keinem Fall arbeitete die Klägerin mit einem ausgebildeten Heilerziehungspfleger in der Weise zusammen, dass sie schwerpunktmäßig nur die pflegerischen Aufgaben und der Heilerziehungspfleger schwerpunktmäßig nur die pädagogischen Au...

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