Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 24.11.1988; Aktenzeichen L 16 Kr 88/87)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. November 1988 – L 16 Kr 88/87 – wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Ersatzkasse die Kosten der Einfrierung und Lagerung von Samenzellen des Klägers zu erstatten hat.

Der bei der Beklagten versicherte Kläger ist am 28. Februar 1962 geboren, ledig und kinderlos. In einer Bescheinigung vom 24. April 1985 erklärte der Assistenzarzt Dr. St. von der radiologischen Abteilung des Knappschafts-Krankenhauses D. …, der Kläger leide an einem Hodencarzinom und müsse deswegen bestrahlt werden. Da dadurch der linke Hoden über Streustrahlung mitgetroffen und die Fertilität beeinträchtigt werden könne, werde eine Einfrierung von Samen des Klägers (Kryosperma) empfohlen. Alsbald wurde ein Kryospermadepot zur Fertilitätsprophylaxe angelegt. Die Gynäkologen Dr. K. und P. berechneten für Einfrierungen 650,– DM; als Verwahrungsgebühr verlangt die Firma M.-G. jährlich 456,– DM. Am 10. Mai 1985 begannen die Bestrahlungen.

Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab. Dagegen brachte der Kläger vor, die Bestrahlungen könnten den Samen verändern, so daß bei einer Zeugung entweder kein Fötus ausgetragen oder ein behindertes Kind geboren würde. Für die nächste Zeit wären deshalb bei ihm schwerste psychische Störungen zu erwarten gewesen, denn in Anbetracht seines noch jugendlichen Alters und einer späteren Heirat denke er bereits jetzt auch daran, Vater zu werden.

Mit der Klage und der Berufung hat der Kläger keinen Erfolg gehabt. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, die Anspruchsvoraussetzungen nach §§ 182 Abs 1, 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien nicht erfüllt. Der Krankenpflege könnten zwar auch andere als die in § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ausdrücklich genannten Leistungen zugerechnet werden, wenn sie ihrer Art nach der Krankenpflege, dh der Erkennung, Behandlung oder Heilung einer Krankheit dienten. Nicht alles jedoch, was der Erkennung, Behandlung oder Heilung diene, sei von der Krankenkasse zu leisten. Bei der Kryokonservierung handele es sich nicht um eine medizinische Maßnahme zur Behandlung der Krankheit. Sie habe vielmehr den Zweck, wie ein Hilfsmittel Begleitumstände der Krebserkrankung auszugleichen. Die ärztliche Behandlung entfalle, denn zur Zeit der Behandlung durch Dr. K. und Dr. P. hätten weder eine Beeinträchtigung der Zeugungsfähigkeit noch psychische Störungen vorgelegen. Im Widerspruchsschreiben vom 29. Mai 1985 habe der Kläger geäußert, daß „in absehbarer Zeit eventuell eine psychische Schädigung eintreten könne”. Die Mitwirkung von Dr. K. und Dr. P. stelle sich ferner nicht als ärztliche Behandlung dar, sondern lediglich als unselbständige Vorbereitungsmaßnahme zur eigentlichen wesentlichen Lagerung des Samens. Diese sei kein Hilfsmittel iS des § 182b RVO, denn es handele sich um eine Dienstleistung.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, er könne durch das Einfrieren und Lagern des Samens seinen regelwidrigen Körperzustand insoweit „heilen”, als er in der Lage sei, dem Kinderwunsch Rechnung zu tragen. Das Einfrieren und Lagern habe auch einer möglichen psychischen Erkrankung entgegengesteuert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 24. November 1988, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 12. Juni 1987 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Mai 1985 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1985 zu verurteilen, die Kosten für die Sperma-Kryokonservierung (Einfrierung und Lagerung) zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger kann nicht beanspruchen, daß die Beklagte die Kosten für die Sperma-Konservierung übernimmt. Wie das LSG zutreffend entschieden hat, handelt es sich nicht um eine Maßnahme der Krankenpflege iS des § 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO bzw der Krankenbehandlung iS des § 27 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Das Einfrieren und die Lagerung des Samens ist keine ärztliche Behandlung (§ 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Buchst a RVO, § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB V). Als ärztliche Behandlung kommt allein die Mitwirkung der Ärzte Dr. K. und Dr. P. in Betracht. Nicht jede ärztliche Tätigkeit ist aber Behandlung iS der genannten Bestimmungen. Das Einfrieren und die Lagerung des Samens sind zusammen dazu bestimmt, den erwarteten Verlust der Zeugungsfähigkeit zu einem späteren Zeitpunkt funktionell zu ersetzen. Ferner mag es auch sein, daß – wie der Kläger meint – das Einfrieren und die Lagerung des Samens der Verhinderung psychischer Störungen als Folge des Grundleidens gedient hat. Dies genügt aber nicht zur Charakterisierung der Tätigkeit der Ärzte Dr. K. und Dr.P. als ärztliche Behandlung der Zeugungsunfähigkeit oder der psychischen Störungen. Das Einfrieren des Samens ist nämlich nur als unselbständige Vorbereitungsmaßnahme zu seiner eigentlich wesentlichen Lagerung anzusehen. Diese Bewertung durch das LSG hält der Senat für zutreffend. Das Einfrieren ist allein nicht geeignet, eine Krankheit zu heilen, die Verschlimmerung zu verhüten oder Beschwerden zu lindern. Nur als Teil der Gesamtmaßnahme kann es in dieser Weise wirken. Die Gesamtmaßnahme wird aber durch die Lagerung bestimmt, sie ist die wesentliche Leistung, weil es darum geht, den Samen über lange Zeit funktionsfähig zu bewahren. Da die Dauer der Lagerung beim Einfrieren noch nicht zu übersehen war und möglicherweise viele Jahre umfaßt, ist auch von wesentlich höheren Kosten für die Lagerung im Verhältnis zu den Kosten für das Einfrieren auszugehen. Als unselbständige Vorbereitungsmaßnahme ist das Einfrieren des Samens keine ärztliche Behandlung.

Die Lagerung des Samens ist kein Hilfsmittel iS des § 182b RVO, § 33 SGB V. Auch insoweit ist das LSG-Urteil nicht zu beanstanden. Für die Zweckrichtung nach § 182b RVO, § 33 SGB V genügt es, daß die befürchtete Zeugungsunfähigkeit des Klägers durch die streitigen Maßnahmen ausgeglichen werden sollen. Die Eignung für diesen Zweck ist hier nicht streitig. Ausschlaggebend ist aber die Feststellung des LSG, die Lagerung sei eine Dienstleistung. Wie das Bundessozialgericht (BSG) mehrfach entschieden hat, sind Dienstleistungen keine Hilfsmittel iS des § 182b RVO (BSG SozR 2200 § 182b RVO Nr 8 und Nr 31). Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest.

Das Einfrieren und Lagern des Samens ist schließlich auch kein Heilmittel (§ 182 Abs 1 Satz 1 Nr 2 RVO, § 32 SGB V). Unter Heilmitteln sind nämlich nur solche Mittel zu verstehen, die von außen auf den Körper einwirken (BSGE 46, 179, 182). Die hier streitigen Maßnahmen wirken aber auf den Körper des Klägers überhaupt nicht ein.

Zur Krankenpflege, auf die der Kläger nach § 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO Anspruch hat, gehören allerdings nicht ausschließlich nur für die in § 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO im einzelnen genannten Leistungen. Die Krankenpflege umfaßt „insbesondere” diese Leistungen. In dem bis zum 31. Dezember 1988 geltenden Gesetz sind die zu gewährenden Leistungen nicht abschließend aufgezählt. Die streitigen Maßnahmen sind indessen auch im Hinblick auf die Leistungsausweitung durch das Wort „insbesondere” keine von der Beklagten zu gewährende Krankenpflege.

Eingefügt wurde das Wort „insbesondere” in die Bestimmung des § 182 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO durch § 21 Nr 5 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I 1881). Dazu heißt es in der Begründung zum Regierungsentwurf, es solle deutlich werden, daß auch andere auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Leistungen zur Erkennung, Behandlung oder Heilung einer Krankheit zur Krankenpflege gehören können (BT-Drucks 7/1237 S 63). Die Bestimmungen der §§ 182 ff RVO darüber, welche Leistungen zur Krankenpflege gehören, sollten offen sein für die Einbeziehung neuer Leistungen, die das Gesetz im Leistungskatalog noch nicht erfassen konnte. Begrenzt wird diese Öffnung nach der Begründung zum Regierungsentwurf durch den Zweck – Leistungen zur Heilung, Behandlung oder Erkennung einer Krankheit. Die Krankenkassen sind aber nach § 182 Abs 1 RVO nicht zur Gewährung aller für die Erreichung dieser Zwecke notwendigen und zweckmäßigen Leistungen verpflichtet. Durch die RVO vom 19. Juli 1911 (RGBl 509) und die folgende Gesetzgebung ist in §§ 182 ff ein umfangreicher Leistungskatalog entwickelt worden. Die Rechtsprechung hat in einer Fülle von Entscheidungen die einzelnen Leistungsarten erfaßt und abgegrenzt. Im Hinblick auf diese Gesetzgebung können über das Wort „insbesondere” im Rahmen der Zweckbestimmung nur solche Leistungsarten einbezogen werden, die mit einer Leistung nach dem Katalog im wesentlichen übereinstimmen und unter die zugrundeliegende Regelungsabsicht sowie den verfolgten Zweck fallen. Dabei ist von den in §§ 182 ff RVO geregelten Leistungen auszugehen.

Die Maßnahme des Einfrierens und Lagerns des Samens kann nicht als Behandlung zur Heilung oder Linderung einer Krankheit des Klägers – insbesondere auch nicht zur Verhütung einer Verschlimmerung des Grundleidens durch hinzutretende psychische Störungen – gewertet werden. Wesentlich ist, wie dargelegt, die Lagerung des Samens. Der Einfügung des Wortes „insbesondere” kann aber nicht die Bedeutung zukommen, daß neben den Ärzten eine andere Personengruppe – hier die Beschäftigten der Firma M.-G. – als zur selbständigen Heilbehandlung berechtigt angesehen werden könnten (vgl BSG SozR 2200 § 182 RVO Nr 80 mwN).

Das Einfrieren und die Lagerung des Samens sollen wie ein Hilfsmittel die befürchtete Zeugungsunfähigkeit ausgleichen. Insofern sind die Maßnahmen nach ihrer Zweckbestimmung mit den Hilfsmitteln zu vergleichen, für die der Zweck des Ausgleichs der Behinderung ausdrücklich genannt ist (§ 182b RVO). Sie sind aber nicht von der Krankenkasse wie ein Hilfsmittel iS des § 182b RVO zu gewähren. Für die Einbeziehung anderer Leistungen nach § 182 Abs 1 Nr 1 RVO ist nämlich Voraussetzung, daß es sich um eine medizinische Maßnahme handelt, die der Behandlung einer Krankheit, und wenn auch nur der Linderung der Beschwerden, dient (BSG SozR 2200 § 182b RVO Nr 31). Das Einfrieren und Lagern des Samens dient nicht der Behandlung der Zeugungsunfähigkeit. Außerdem ist die – hier fehlende – Sächlichkeit des Mittels das begriffsprägende Merkmal der Hilfsmittel. Es ist für die Hilfsmitteleigenschaft wesentlich. Bis zum Inkrafttreten des RehaAnglG am 1. Oktober 1974 umfaßte die Krankenflege nach § 182 Nr 1 RVO außer der ärztlichen und zahnärztlichen Behandlung nur die Versorgung mit Arznei sowie Brillen, Bruchbändern und anderen kleineren Heilmitteln. Die Satzung konnte die Gewährung von Hilfsmitteln gegen Verunstaltung und Verkrüppelung lediglich unter den Voraussetzungen des § 187 Abs 3 RVO aF als Mehrleistung zubilligen. Erst durch das RehaAnglG wurde § 182 Nr 1 RVO geändert und Körperersatzstücke, orthopädische und andere Hilfsmittel sowie weitere Leistungen und ferner die Vorschrift des § 182b RVO eingefügt. Der Gesetzgeber der RVO hat damit erstmals eine Leistungspflicht der Krankenkassen für Hilfsmittel als Regelleistung bestimmt und dabei einen verallgemeinernden Begriff verwendet, nämlich neben den orthopädischen auch andere Hilfsmittel genannt. Von einer noch weiteren, etwa nur vom Zweck her bestimmten, Verallgemeinerung hat der Gesetzgeber aber abgesehen. Der Begriff „Hilfsmittel” enthält insoweit eine Einschränkung. Diese Einschränkung wäre ohne Sinn und würde aufgehoben, wenn die Krankenpflege nach § 182 Abs 1 Satz 1 RVO alle der Heilung oder den in § 182b RVO genannten besonderen Zwecken dienenden Maßnahmen umfassen würde.

Die Beklagte hat das Einfrieren und die Lagerung des Samens schließlich nicht wie ein Heilmittel zu gewähren. Die befürchtete Zeugungsunfähigkeit des Klägers wird durch die Maßnahme nicht geheilt. Allerdings könnte die Sperma-Konservierung dem Auftreten psychischer Störungen, die möglicherweise als Verschlimmerung des Grundleidens des Hodencarzinoms anzusehen sind, entgegenwirken. Sie unterscheidet sich aber insoweit wesentlich von einem Heilmittel, als das Einfrieren und Lagern von Samen weder auf den Körper einwirkt noch überhaupt eine gezielt zur Krankheitsbekämpfung eingesetzte Maßnahme darstellt. Zwar können auch Maßnahmen, deren medizinische Natur nicht ohne weiteres erkennbar ist, zur Krankenpflege gehören. Das setzt aber eine ausdrückliche Feststellung im Einzelfall voraus, daß sie zur Krankheitsbekämpfung eingesetzt werden (BSG SozR 2200 § 182 Nr 14). Dem Kläger ist die Kryokonservierung zwar vor der Bestrahlung ärztlich empfohlen worden. Diese einmalige ärztliche Empfehlung hat aber den Charakter eines Rates zur Lebensplanung und ist nicht als ärztliche Verordnung der hier wesentlichen Dauerleistung – Lagerung des Samens – zu werten. Für die Lagerung ist keinerlei ärztliche Begleitung und Überwachung vorgesehen und notwendig. Es fehlt an jeder besonderen Ausgestaltung der Maßnahme zum Zweck der Krankheitsbekämpfung. Bei einer Maßnahme, die durch ihre Dauer geprägt wird, fällt dies besonders ins Gewicht. Es würde den Rahmen der Krankenversicherung sprengen, wenn hier die Leistungspflicht der Krankenkasse angenommen würde.

Aus der seit Inkrafttreten des § 27 Satz 3 SGB V am 1. Januar 1989 gebotenen Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse psychisch Kranker ergibt sich kein Anspruch des Klägers auf Übernahme der Kosten für die Lagerung der Samenzellen von diesem Zeitpunkt an, denn es fehlt schon an beachtlichen Anhaltspunkten für das Bestehen einer psychischen Krankheit des Klägers.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

NJW 1991, 773

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